Medicus 03 - Die Erben des Medicus
»Das Schwierige im Leben ist die Entscheidung.«
George Moore The Bending of the Bough
»Ich hatte nie des Geldes wegen eine Praxis; es wäre mir unmöglich gewesen. Aber die eigentlichen Besuche bei den Patienten, zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen, das Zurechtkommen mit den intimsten Umständen ihres Lebens, wenn sie auf die Welt kommen, wenn sie sterben, zu sehen, wie sie sterben, zu sehen, wie sie wieder gesund werden, nachdem sie krank waren, das alles hat mich immer fasziniert«
William Carlos Williams, M. D. Autobiography
»Der vertrauliche, beruhigende, herzliche Kontakt mit dem Arzt, der Trost und die Anteilnahme, die langen, entspannten Gespräche ... verschwinden allmählich aus der medizinischen Praxis, und dies mag sich einmal als äußerst großer Verlust erweisen ... Wenn ich heute Medizinstudent oder eben beginnender Assistenzarzt in einem Krankenhaus wäre, würde ich mir um diesen Aspekt meiner Zukunft mehr Sorgen machen als um alles andere. Ich würde befürchten, daß mir meine eigentliche Arbeit, die Behandlung kranker Menschen, bald weggenommen würde und ich eine ganz andere Aufgabe erhalten würde, nämlich die Überwachung von Maschinen. Ich würde Mittel und Wege suchen, um dies zu verhindern.«
Lewis Thomas, M. D. The Youngest Science: Notes of a Medicine Watcher
Erster Teil
Der Rückschlag
Eine Unterredung
R.J. wachte auf.
Ihr Leben lang würde sie immer wieder mitten in der Nacht die Augen aufschlagen und mit der beklemmenden Gewißheit in die Dunkelheit starren, noch eine überarbeitete Assistenzärztin am Lemuel Grace Hospital in Boston zu sein, die sich während einer Sechsunddreißig-Stunden-Schicht in einem leeren Krankenzimmer ein kurzes Nickerchen erschlichen hat.
Sie gähnte, während die Gegenwart in ihr Bewußtsein sickerte und ihr zu ihrer großen Erleichterung dämmerte, daß die Assistenzzeit schon Jahre zurücklag. Aber sie verschloß sich vor der Wirklichkeit, denn die Leuchtzeiger ihres Weckers sagten ihr, daß sie noch zwei Stunden liegenbleiben durfte, und in dieser längst vergangenen Assistenzzeit hatte sie gelernt, jede Minute Schlaf zu nutzen.
Zwei Stunden später wurde sie, bei grauer Morgendämmerung und diesmal ohne Schrecken, wieder wach und schaltete den Wecker aus. Sie wachte immer auf, kurz bevor er klingelte, trotzdem stellte sie ihn regelmäßig am Abend zuvor, für alle Fälle. Aus dem Massageduschkopf trommelte ihr das Wasser fast schmerzhaft auf den Schädel, was so belebend war wie eine zusätzliche Stunde Schlaf. Die Seife glitt über einen Körper, der ein wenig fülliger war, als sie es für erstrebenswert hielt, und sie wünschte sich, sie hätte Zeit zum Joggen, doch die hatte sie nicht.
Während sie sich die halblangen schwarzen, noch immer dichten und kräftigen Haare föhnte, begutachtete sie ihr Gesicht. Ihre Haut war glatt und rein, die Nase schmal und etwas lang, der Mund groß und voll. Sinnlich? Groß, voll und seit langem ungeküßt. Sie hatte Ringe unter den Augen.
»Also, was willst du, R.J.?« fragte sie barsch die Frau im Spiegel.
Tom Kendricks auf jeden Fall nicht mehr, sagte sie sich. Da war sie ganz sicher.
Was sie anziehen wollte, hatte sie sich schon vor dem Zubettgehen überlegt, und die Sachen hingen nun an der einen Seite des Schranks: eine Bluse und eine maßgeschneiderte Bundfaltenhose, darunter standen attraktive, aber bequeme Schuhe. Vom Gang aus sah sie durch die offene Tür zu Toms Schlafzimmer, daß der Anzug, den er tags zuvor getragen hatte, noch immer am Boden lag, wie er ihn am Abend hingeworfen hatte. Er war früher aufgestanden als sie und hatte das Haus schon lange verlassen, denn er mußte bereits um sechs Uhr fünfundvierzig mit desinfizierten Händen im Operationssaal sein. Unten goß sie sich ein Glas Orangensaft ein und zwang sich, es langsam zu trinken. Dann zog sie ihren Mantel an, nahm ihre Aktentasche und ging durch die unbenutzte Küche zur Garage. Der kleine rote BMW war ihre Schwäche, so wie das herrschaftliche alte Haus die von Tom war. Sie mochte das Schnurren des Motors und die reaktionsfreudige Präzision des Lenkrads. Während der Nacht hatte es leicht geschneit, aber die Räumkolonnen von Cambridge hatten gute Arbeit geleistet, und nachdem sie den Harvard Square und den JFK Boulevard passiert hatte, kam sie problemlos vorwärts. Sie schaltete das Radio an und hörte Mozart, während sie sich von der Flut des Verkehrs den Memorial Drive hinuntertreiben ließ, dann
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