Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt
und setz dich hin, dann werde ich's dir erzählen.«
Joel zog sich die Gummistiefel aus und hängte seine Jacke über die Stuhllehne. Dann setzte er sich. Er war sehr gespannt. Was konnte so wichtig sein an dem Brief, dass Samuel früher als gewöhnlich von seiner Arbeit im Wald nach Hause kam?
Als er sich gesetzt hatte, merkte er, dass Samuel sehr erregt war. Seine Unterlippe zitterte.
»Ich hab einen Brief von Elinor bekommen«, sagte er. »Von ihr hab ich seit zehn Jahren nichts mehr gehört.« Joel wartete auf die Fortsetzung, die aber nicht kam. »Wer ist Elinor?«, fragte er, als es lange genug still gewesen war.
»Elinor hatte ein Café in Göteborg«, sagte Samuel, »zu der Zeit, als ich zur See fuhr.«
Joel seufzte lautlos. Vor einigen Jahren hatte Samuel Sara kennen gelernt, die in der Bierstube im Ort arbeitete. Manchmal hatte Samuel bei ihr übernachtet. Aber dann war es zu Ende gewesen. Sara hatte Schluss gemacht. Und Samuel hatte wieder angefangen zu trinken. Jetzt war offenbar ein Brief von einer anderen gekommen, die auch in so einem Café arbeitete. Vielleicht hatte Samuel früher auch bei ihr übernachtet? Aber warum war das wichtig?
Mitunter ist Samuel komisch, dachte Joel. Komisch wie alle Erwachsenen. Sie denken immer rückwärts, wenn sie vorwärts denken müssten. Da kommt ein Brief von jemandem, von dem er zehn Jahre lang nichts gehört hat. Und schon fängt seine Unterlippe an zu zittern. Aber wenn ich ihn frage, wann gehen wir weg aus diesem Nest, wann gehen wir zur See, dann krieg ich keine Antwort.
Joel sah Samuel an und dachte, dass er vielleicht etwas fragen sollte. So tun, als sei er interessiert.
»Was will sie denn?«, fragte er.
»Sie schreibt, dass sie weiß, wo Jenny wohnt.«
Es dauerte eine Weile, ehe Joel begriff, was Samuel gesagt hatte. Dann war es, als ob es ein Erdbeben gegeben hätte. Er fühlte sich durchgeschüttelt, als ob die Erde und das Haus zusammenstürzten.
Eine Frau, die Elinor hieß, hatte einen Brief über Mama Jenny geschrieben. Sie, die verschwunden war und nie mehr von sich hatte hören lassen.
Samuel hatte sich die Brille aufgesetzt.
»Hier steht es«, sagte er. »Jenny wohnt in Stockholm in einer Straße, die heißt Östgötastraße. Im Stadtteil Söder. Und dass sie als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen irgendwo beim Medborgarplatz arbeitet.«
Joel starrte Samuel an. »Weiter steht da nichts?«
Samuel nahm sich die Brille ab. »Da steht, dass sie geheiratet hat.«
»Aber sie ist doch mit dir verheiratet?«
»Wir haben nie geheiratet. Deshalb brauchten wir uns auch nicht scheiden zu lassen.«
Joel war verwirrt. Samuel und Jenny waren nie verheiratet gewesen? Jetzt war er interessiert. Jetzt wollte er alles wissen, was in dem Brief stand. Er streckte die Hand aus. Aber Samuel legte seine schwere Hand auf das weiße Briefpapier.
»Der Brief ist an mich gerichtet«, sagte er. »Jenny ist meine Mama«, antwortete Joel.
»Aber Elinor hat mir geschrieben. Elinor ist eine Freundin von Jenny. Deshalb hat sie geschrieben.«
Joel versuchte nachzudenken.
»Aber was steht da sonst noch drin?«
»Dass Elinor Rückenschmerzen hat.«
»Steht da nicht mehr über Mama? Auf Elinor scheiß ich doch.«
Joel erschrak. Samuel sah ihn erstaunt an. Joel merkte, dass er Angst bekam. Angst, Samuel könnte wütend werden. Manchmal konnte er plötzlich aufbrausen. Auch wenn er sich selbst nicht immer fein ausdrückte, mochte er es nicht, wenn Joel so redete.
»Elinor ist nett«, sagte Samuel. »Sie hat ihr Leben lang hart gearbeitet. Servieren ist eine schwere Arbeit. Denk dran, was für Schwierigkeiten Sara mit ihren Beinen hatte.«
»Ich hab's nicht so gemeint«, murmelte Joel. »Aber steht da noch was über Mama?«
»Nichts.«
»Mit wem ist sie verheiratet?«
»Das schreibt Elinor nicht.«
Das Gespräch war zu Ende. Samuel setzte sich die Brille wie der auf und las den Brief noch einmal. Joel konnte an seinen Lippen sehen, wie er langsam Wort für Wort formte. Er versuchte zu begreifen, was eigentlich passiert war. Zum ersten Mal konnte ihnen jemand sagen, wo Mama Jenny wohnte. Früher, wenn Joel gefragt hatte, hatte Samuel nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass er es nicht wusste.
Plötzlich war alles ganz anders. Mama Jenny hatte eine Adresse und eine Arbeit. Und leider auch einen Mann. Joel fing an Kartoffeln zu schrubben. Samuel las den Brief zum dritten Mal.
»Kannst du ihn nicht laut vorlesen?«, fragte Joel.
»Der Brief ist an mich
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