Joe's Diary: Tagebucheinträge des Serienkillers aus »Opferzeit« (German Edition)
neues Leben beginnen. Wir fahren weiter. Keiner sagt etwas. Keiner summt vor sich hin. Und so langsam habe ich das Gefühl, Schroder hat es sich doch anders überlegt, und sie wollen es so aussehen lassen, als hätte ich einen Fluchtversuch unternommen, jedoch außerhalb der Stadtgrenzen, wo niemand mitkriegt, wie ich abgeknallt werde. Meine Klamotten sind blutgetränkt, aber das scheint niemanden zu stören. Keine Ahnung, ob das je wieder ganz rausgeht. Wir halten an einer roten Ampel. Jack glotzt in den Rückspiegel, als versuche er, ein Rätsel zu lösen. Ich starre eine Weile zu ihm zurück, dann senke ich den Blick. Meine Beine sind voller roter Spritzer und Schlieren. Mein Augenlid hat jetzt angefangen zu schmerzen. Es fühlt sich an, als hätte man es mit Brennnesseln eingerieben.
Vor dem Krankenhaus kommen wir schließlich zum Stehen. Mehrere Streifenwagen bilden einen Halbkreis um uns. Es fängt an zu regnen. In einem Monat ist Winteranfang, und mich beschleicht das ungute Gefühl, dass ich ihn nicht mehr erleben werde. Gentlemanlike hält mir Jack die Tür auf. Und die anderen Männer in Schwarz richten – nicht ganz so gentlemanlike – ihre Pistolen auf mich. Ärzte, Patienten und Besucher starren vom Haupteingang zu uns herüber. Keiner rührt sich. Wir scheinen eine ganz schöne Show abzuziehen. Man hilft mir aus dem Wagen. Alles in Ordnung, denke ich, aber von wegen. Im Sitzen ist alles in Ordnung, jedoch nicht im Stehen. Im Stehen ist die Welt voller Handschellen, Pistolen und Blutverlust. Ich fange an zu taumeln und sinke auf die Knie. Von meinem Gesicht spritzt Blut auf den Gehweg. Zunächst scheint es, als würde Jack versuchen, mich aufzufangen, aber dann besinnt er sich eines Besseren. Und ich falle nach vorne. Ich schaffe es nicht, meine Hände vor meinen Körper zu reißen, um meinen Sturz abzufangen, sondern nur das verletzte Augenlid vom Boden weg Richtung Himmel zu drehen, doch irgendwie verwechsle ich dabei was – wahrscheinlich, weil ich in den letzten paar Minuten das Lid im Rückspiegel betrachtet habe – und lande schließlich doch mit dieser Seite meines Gesichts auf dem Boden. Ich sehe eine Menge Stiefel und die untere Hälfte des Wagens. Ich sehe zwei hungrig wirkende Polizeihunde, die an ihren Leinen zerren. Jemand legt seine Hand auf meinen Körper und dreht mich herum. Mein Augenlid bleibt in einer Blutlache auf dem nassen Parkplatz liegen. Es sieht aus, als hätte man dort eine Schnecke getötet, wie der Tatort eines obskuren Tiermords, wo in Kürze andere schleimige Arschlöcher versuchen werden, herauszufinden, was passiert ist.
Nur dass dieser schleimige Fleischfetzen dort von mir stammt. »Das gehört mir«, sage ich und spüre, wie der brennende Schmerz sich von der Wunde langsam weiter durch meinen Körper bohrt. Mir tränt das Auge, und ich kann nicht blinzeln. Ich tue mein Bestes, aber der verbliebene Hautfetzen hängt wie ein viel zu kurzer Vorhang über meinem Auge.
»Das da?«, sagt Jack und trampelt mit dem Schuh drauf, als würde er einen Zigarettenstummel austreten. »Das da gehört dir?«
Bevor ich mich beschweren kann, stellt man mich auf die Beine, und ich bin wieder in Bewegung. Obwohl es bewölkt ist, erscheint es hell, und ich kann das Licht durch Blinzeln nicht vertreiben, jedenfalls nicht auf meinem linken Auge. Auch den Schweiß und das Blut kann ich nicht fortblinzeln. Ich werde von einem Einsatzteam umringt und kann hören, wie sich die Männer unterhalten. Darüber, dass sie die Gesetze hassen, die von ihnen verlangen, mich hierherzubringen, obwohl ihre Moralvorstellungen ihnen etwas anderes sagen. Sie halten mich für einen schlechten Menschen, aber sie verstehen das alles falsch.
Ein Arzt tritt zu mir. Er macht einen verängstigten Eindruck. Das würde ich auch, wenn ein Dutzend bewaffneter Männer auf mich zumarschiert käme. So wie ich das vor zehn Minuten zum ersten Mal erlebt habe. Die übrigen Personen am Haupteingang stehen mit der Hand vorm Mund da oder filmen mit dem Handy das Geschehen. Einige der Aufnahmen werden heute Abend landesweit in den Nachrichten zu sehen sein. Ich versuche mir vorzustellen, wie das auf Mom wirken muss, doch dazu komme ich nicht, denn der Arzt reißt mich aus meinen Gedanken.
»Was ist hier los?«, fragt er, und das ist eine gute Frage, nur dass sie von einem Typen in den Fünfzigern kommt, der eine Fliege trägt, also von jemandem, zu dem man besser Abstand hält.
»Dieser …«, setzt Schroder an, und
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