Jones, Diana Wynne
herausgefunden, wie der Adon wirklich ausgesehen hatte. Seit seiner Ankunft in Aberath hatte er eine Geschichte nach der anderen über den Adon gehört, den großen Helden, der mit den Unvergänglichen sprach und der das Leben eines Gesetzlosen geführt hatte, bevor er zum letzten König Dalemarks gekrönt wurde. Mehrere Jahrhunderte war das nun her. Mitt blickte von dem Gemälde auf die beiden lebendigen Gesichter, die im Halbdunkel der Bibliothek miteinander tuschelten, und dachte: Märchen für Kinder sind das! Ich wette, er war genauso schlimm wie die beiden hier! Nun, ich bin aus Holand entkommen, und wenn ich das geschafft habe, dann kann ich auch aus Aberath verschwinden!
In diesem Augenblick hörte er, wie Keril murmelte: »O ja, ich glaube bestimmt, dass er das ist!« Was glaubt er, was ich bin?, wunderte sich Mitt, und die beiden Adligen wandten sich ihm wieder zu. »Wir haben über deine Vergangenheit gesprochen«, sagte Keril. »Versuchter Mord in Holand. Erfolgreicher Mord auf den Heiligen Inseln.«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Mitt zornig. »Meinetwegen kannst du glauben, was du willst, aber ermordet habe ich noch niemanden! Und ich hatte schon längst alle Versuche aufgegeben, als ich hier ankam.«
»Dann wirst du dich zwingen müssen, deine Versuche wieder aufzunehmen«, entgegnete die Gräfin. »Richtig?«
»Du bist auf einem Boot hierher gekommen«, fuhr Keril fort, bevor Mitt etwas erwidern konnte. »Zusammen mit Navis Haddsohn und seinen Kindern Hildrida und Ynen. Die Gräfin von Aberath nahm dich auf und ließ dich ausbilden …«
»Als Buße für meine Sünden«, warf die Gräfin lieblos ein.
»Du musst zugeben, dass du im Norden gut behandelt worden bist«, sagte Graf Keril. »Besser als die meisten Flüchtlinge aus dem Süden. Das gilt nicht nur für dich, sondern auch für deine Freunde. Für Navis haben wir eine Stellung als Gefolgsmann bei Stair von Adenmund gefunden, und Hildrida studiert an der Rechtsakademie von Auental. Hast du dich denn nie gefragt, warum wir uns solche Mühe geben?« Während Mitt darüber nachdachte, fügte Keril in freundlichem Ton hinzu: »Euch vier auf diese Weise zu trennen, meine ich.«
Bei dieser Art von Freundlichkeit kam Mitt sich vor wie ein Sack mit einem Loch darin: Alles rann durch das Loch hinaus. Fast hätten ihn seine Knie im Stich gelassen. »Wo also ist Ynen?«, fragte er. »Ist er nicht bei Navis?«
»Nein«, antwortete die Gräfin. »Und wir werden dir nicht sagen, wo er ist.«
Mitt sah zu, wie ihr breiter Mund sich schloss wie eine Falle. »Ich habe immer gedacht«, sagte er, »die Grafen des Nordens wären gute Menschen. Ihr seid aber um keinen Deut besser als die im Süden. Ihr seid euch wohl für nichts zu schade! Ihr droht mir, meinen Freunden etwas anzutun, wenn ich nicht jemanden für euch umbringe! Richtig?«
»Sagen wir einfach – tu es, wenn du deine Freunde jemals wiedersehen möchtest«, entgegnete Keril.
»Na, da hast du aber aufs falsche Pferd gesetzt«, sagte Mitt. »Du kannst mich zu gar nichts zwingen. Es kratzt mich überhaupt nicht, was einem von denen passiert.«
Die beiden Adligen blickten ihn schweigend und mit unerbittlichen Gesichtern an. Mitt gelang ein gleichgültiges Achselzucken. »Wir sind nur zufällig im gleichen Boot gefahren, das ist alles«, sagte er. »Das schwöre ich.«
»Das schwörst du? Bei welchem der Unvergänglichen?«, fragte Keril. »Beim Einen? Beim Flötenspieler? Beim Wanderer? Bei Ihr, die Sie die Inseln erhob? Bei der Weberin? Beim Erderschütterer? Na komm schon! Wähle dir einen aus und schwöre!«
»Wir im Süden schwören anders«, entgegnete Mitt.
»Das weiß ich«, sagte Keril. »Dann kann es doch nicht schaden, wenn du mir beim Erderschütterer schwörst, dass Navis und seine beiden Kinder dir gleichgültig sind? Schwör es einfach, und wir reden nie wieder über die Sache.«
Sie neigten ihre Köpfe in Mitts Richtung. Mitt wandte den Blick ab zu den dunklen, gemalten Augen des Adons und versuchte, sich zum Schwur zu überwinden. Hätte sich Keril irgendeinen anderen Unvergänglichen ausgesucht, es wäre ihm kinderleicht gefallen. Nur beim Erderschütterer konnte er keinen Meineid leisten. Kerils Auswahl bewies, wie beunruhigend viel der Graf über Mitt wusste. Dennoch, er konnte doch schwören, dass Navis und Hildi ihm egal seien, und so tun, als beziehe er auch Ynen mit ein, oder? Navis, dieser kalte Fisch, schien Mitt ohnehin nicht besonders leiden zu können, und
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