Jones, Susanna
wurde eines Besseren belehrt. Dieser merkwürdige, grüblerische und dann wieder zu überschwänglichen Lachanfallen neigende Neffe arbeitete hart und wurde stark. Er schien vollauf damit zufrieden zu sein, den Boden zu wischen, die Essensreste wegzuwerfen, Bestelllisten aufzusetzen. Er arbeitete den ganzen Tag, und abends zog er los, keiner wusste wohin. Als Soutaros Schwester starb, war es keine Frage, dass ihr Sohn weiter bei ihm arbeiten würde. Soutaro hatte nie geheiratet, und ihm gefiel die Vorstellung, dass das Lokal nach seinem Tod in den Besitz seines Schwestersohnes übergehen würde. Aber seitdem bereitete ihm der Junge zunehmend Sorgen. Was trieb er dauernd mit dieser Kamera? Warum hatte er keine Freunde außer diesem mürrischen ausländischen Mädchen? Soutaro war gerade so weit, dass er mit Teiji reden wollte, ihn fragen, ob es nicht langsam an der Zeit sei, dass er heiratete (und zwar keine Ausländerin), als eigenartige Dinge geschahen. Teiji verreiste übers Wochenende, auf die Insel Sado. Nach seiner Rückkehr wirkte er zappelig und nervös. Ein paar Wochen später ließ er auf dem Tresen einen Zettel zurück, mit einem unentwickelten Film beschwert. Teiji zog nach Norden, nach Hokkaido, um dort sein Glück zu versuchen.
Ohne Teiji schaffte es Soutaro nicht mehr. Er hatte Rückenprobleme und war reif für den Ruhestand. Er ließ den Film entwickeln in der Hoffnung, Teiji habe ihm irgendeinen Hinweis hinterlassen, aber die Fotos waren seltsame Aufnahmen von verlassenen Stränden, Gleisen ohne Züge, mit Brettern vernagelten Häusern, einsamen Mülltonnen. Leere. Er betrachtete sie aus sämtlichen Blickwinkeln, hielt sie verkehrt herum. Er setzte sich eine alte 3-D-Brille auf, die mal mit einer Tierillustrierten mitgeliefert worden war, und musterte noch einmal jedes einzelne Foto. Schließlich warf er die Bilder fort und verkaufte sein Lokal an einen Fremden. In seiner Wohnung zeichnete er Blumen und Vögel vor menschenleeren Hintergründen. Er wusste, dass er Teiji nicht wieder sehen würde.
Matsuda Teiji. Teiji Matsuda. Wie hatte ich seinen Nachnamen nicht wissen können? Es schockiert mich, dass ich es in einem Land, in dem der Familienname häufiger als der Vorname benutzt wird, irgendwie geschafft hatte, den von Teiji nicht mitzubekommen. Ich muss ihn doch auf einem Umschlag oder irgendwo in seiner Wohnung gelesen oder irgendwann gehört haben, als ein Stammgast nach ihm fragte. Aber nein, gar nichts. Und jetzt spüre ich - noch deutlicher als an dem Abend, als ich ihn auf dem Bahnhof mit Lily sah -, dass ich ihn kaum gekannt habe, dass er mich immer nur zum Narren gehalten und sich mir entzogen hat.
«Ja, ich kannte ihn.»
«Sie waren seine Freundin. Und wissen Sie was? Er hat Sie wegen Ihrer Freundin, Lily Bridges, verlassen. Das hat Sie so mitgenommen, dass Sie sogar über eine Woche lang nicht zur Arbeit gegangen sind.»
Natsuko muss mit ihnen geredet haben. Oder vielleicht sogar Bob. Lily könnte ihn um Rat gefragt haben, bevor sie Lucy besuchte. Sie könnte ihm erzählt haben, was sie mit Teiji getan hatte. Aber es hat keinen Zweck, Freunde zu beschuldigen. Genauso gut könnte meine Nachbarin sich das an fünf Fingern ausgerechnet und der Polizei erzählt haben.
Mir ist schwindlig, das gleiche Gefühl wie auf Sado, bevor ich auf der Klippe zusammengebrochen bin. Meine Hände greifen nach meinem Gesicht. Ich stütze die Ellbogen auf die Knie, das Kinn in beide Hände. Im Zimmer ist es heiß. Die Jeans kleben mir vor Schweiß und Erbrochenem an den Beinen. Jemand gibt mir eine Schüssel kaltes Wasser und ein Tuch. Ich reibe mit dem angefeuchteten Tuch über Arme und Beine, schwenke es in der Schüssel, wringe bräunliche Tropfen aus ihm aus. Ich lege das Tuch in die Schüssel. Es schwimmt und schwappt gegen den Rand. Ich fühle mich sauberer, kühler.
Jetzt ist mein Mund in Bewegung, redet und redet, obwohl sich meine Zunge wie betäubt anfühlt und ich mich wie eine Betrunkene anhöre. Ich erzähle ihnen, was sie hören wollen. Die Geschichte kommt ganz mühelos, fast von selbst heraus. Da wäre als Erstes meine krankhafte Eifersucht auf Lily, gefolgt von der blinden Wut, die mich wie Feuer zu verzehren drohte, als sie mich enttäuschte. Als Nächstes schildere ich meine obsessive Liebe zu Teiji, eine Liebe, die es mir unmöglich machte zu akzeptieren, dass es vorbei war, dass er mich nicht mehr haben wollte. Schließlich die Strumpfhose, die sich als eine so praktische Waffe
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