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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Erde bebt
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Abgang und Lucys Auftritt vergangen sein mochte. Ich hatte mir vorgestellt, Sachi liege in den Tiefen der Vergangenheit begraben, so wie ihre Fotos in diesem Karton, aber vielleicht war Teiji, ohne anzuhalten, von ihr zu mir und dann von mir zu Lily gegangen, als wären wir drei Stationen entlang einer Eisenbahnlinie.
    Ich ging die Straße entlang, die am Yoyogi-Park vorbeifuhrt. Ich konnte nicht hineinsehen, aber die Baumkronen ragten hoch und fiedrig über die Mauer. Ich hörte wieder das Lied, das wir in dieser Nacht gesungen hatten. Ue o Muite Arukou. Ich weinte, sparte es mir aber, so, wie das Lied empfiehlt, den Kopf zu heben, damit die Tränen nicht herausfielen, denn es war sowieso niemand da und ich konnte sie genauso gut ganz nach Belieben fallen lassen. Ich erreichte mein Büro in Shibuya. Ich war noch nie bei Nacht da gewesen und war froh, es zu sehen.
    Vielleicht war es der einzige Ort in Tokio, wo ich mich jetzt, ohne Teiji oder Lily, noch zu Hause fühlen konnte. In ein, zwei Tagen würde ich vielleicht wieder arbeiten gehen. Es würde mir eine Beruhigung sein zu erfahren, dass die Hochofenübersetzung termingerecht und qualitativ zufrieden stellend fertig geworden war. Als die Sonne kräftiger wurde und die Menschen aus den Häusern herauskamen und sich auf den Weg zur Arbeit und zur Schule machten, war ich bereits zwischen Ebisu und Meguro, und schließlich kam ich dort wieder an, wo ich losgegangen war. Gotanda. Ich hatte die Strecke eines Marathons zurückgelegt. Ich war einmal rund um Tokio gegangen.
    Als ich in meine Wohnung kam, war das Telefon noch immer am Klingeln. Ich kümmerte mich nicht darum und ließ mir ein heißes Schaumbad einlaufen. Meine Füße brannten und pochten. Ich setzte mich bis zum Hals ins Wasser und betrachtete mit geschlossenen Augen die Clubs und Bars, die Grabsteine, die Wohnungen mit ihren Wäscheleinen, die Eisenbahngleise, unaufhörlich von immer neuen Linien geschnitten, die sich über ganz Tokio und Japan zogen. Und die Waggons und Loks, die auf Nebengleisen schliefen, versteckt, leer.
    Als ich aus der Wanne stieg, taten mir die Füße immer noch weh. Sie waren rot und violett und geschwollen. Ich ging, als stünde ich zum ersten Mal in meinem Leben auf Schlittschuhen und humpelte vom Umkleideraum zur Eisbahn. Das Telefon klingelte und klingelte. Ich nahm ab und wartete, ohne etwas zu sagen. Lilys schrille Stimme war laut und deutlich zu hören.
    «Lucy. Bist du da? Ich versuche dich die ganze Zeit zu erreichen. Ähm. Ich wollte dir sagen, dass es mir Leid tut wegen dem, was du gesehen hast. Das, was mit Teiji passiert ist - das war nicht beabsichtigt.»
    Du hast dich versehentlich mit ihm auf dem Bahnhof verabredet, sobald ich weg sein würde? Ich bekam den Mund nicht auf, aber die Worte gellten mir im Kopf.
    «Ich fühle mich abscheulich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.»
    Wozu hast du mich dann angerufen?
    «Es ist mir klar, dass ich dir das Herz gebrochen habe.»
    Mein Puls beschleunigte sich. Mein Gesicht und mein Hals brannten. Was wusste Lily von meinem Herzen? Ich zog zwei Lungen voll Luft ein, um die folgenden Sätze ohne eine Atempause sagen zu können.
    «Mein Herz ist ein komplexes Organ, bestehend aus Muskeln, Klappen und Blut. Es kann angegriffen sein, es kann einen Infarkt erleiden, und es kann sogar ganz zu schlagen aufhören. Aber es kann nicht zerbrechen. Also ruf mich nicht an, um mir mitzuteilen, du wärst zu dem Schluss gekommen, dass mein Herz gebrochen ist.» Meine Augen schwammen in Tränen. Ich blinzelte, um besser sehen zu können, und prompt lief mir heißes Wasser über die Wangen. «Meinem Herzen geht's ausgezeichnet.» Meine Stimme überschlug sich. «Aber die Füße kann ich nicht mehr rühren.»
    «Die Füße? Lucy?»
    Ich legte den Hörer auf, und im selben Augenblick klingelte es an der Tür. Da ich wusste, dass es nicht Lily sein konnte, putzte ich mir die Nase, wischte mir die Augen, kroch zur Tür und zog mich daran hoch, um aufzuschließen.
    Vor mir stand Natsuko mit einem Arm voll gelbem Mohn. Die Blütenköpfe streiften die Spitzen ihrer Haare.
    «Lucy, was ist los? Bist du krank?»
    «Mir geht's nicht besonders. In ein, zwei Tagen bin ich wieder auf dem Damm.»
    «Du siehst entsetzlich aus. Geh um Gottes willen zum Arzt und lass dir sagen, was dir fehlt. Hast du geweint?»
    «Ich brauch keinen Arzt. Ich glaub sowieso nicht an das Pack. Zum Arzt zu gehen, wenn man keinen braucht, heißt, das Schicksal

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