Judastöchter
Werwolf? Bei einer Schießerei mit einem Vampir? Bei einem Schwertkampf mit einem Dämon?
Ich brauche ein Silbermesser. Und passende Kugeln für meine Pistolen.
Wilson atmete tief durch.
Allmächtiger, ich klinge schon, als würde ich tatsächlich glauben, was ich da gelesen habe!
Harm Byrne hatte ihn in seinem Testament gewarnt, sich Mutter und Tochter behutsam zu nähern, weil sie in der Vergangenheit oft getäuscht worden waren. Anfangs sollte er nur aus der Entfernung auf sie achten und erst nach einem Jahr Kontakt aufnehmen. Beim Einkauf oder sonst wo. Hauptsache, vorsichtig und so gut wie zufällig.
Das Bild einer Frau, die aussah wie Emmas ältere Schwester, war im Dossier ebenfalls enthalten. Angeblich handelte es sich dabei um eine Vampirin der Sorte
Kinder des Judas,
die Ahnin der beiden. Und: Sie war die andere Beschützerin sowie mehr als argwöhnisch. Sie tötete Verdächtige eher, bevor sie lange fragte. Skrupellos.
Wohl auch mich, wenn ich nicht achtgebe … also, wenn sie eine Vampirin ist. Muss sie aber eigentlich gar nicht. Es reicht vollkommen aus, wenn sie eine Killerin ist.
Sein Spiegelbild zeigte ihm ein Gesicht mit langen Stoppeln, die erstes Grau aufwiesen. Das Ergebnis seiner Vernachlässigung der Körperpflege, aber die Lektüre war zu spannend gewesen. Auch die persönlichen Einschübe seines Chefs, die Lamenti … sie hatten ihn in der Seele gerührt.
Er sah an sich herab, am zerknitterten grau-rot karierten Morgenmantel, den er über dem hellen Pyjama trug, und wackelte mit den nackten Zehen. Der Plan:
duschen, rasieren und ab in den Butler’s Club.
Wilson marschierte ins Bad.
Nach einer blitzschnellen Nachmittagstoilette, inklusive Entfernen der Bartstoppeln und Korrektur der Frisur, schlüpfte er in der Ankleide in seinen grauen Maßanzug und warf sich den schwarzen Mantel über. Er mochte den Stil eines Gentlemans. Die Jahre in den Diensten von Leuten, die Wert auf ihr Erscheinungsbild legten, hatten ihn sehr geprägt. Wilson bevorzugte es, auf sich zu achten und zu jeder Zeit gut gekleidet zu sein.
Ein leises Klirren ertönte aus dem Haus, dann krachte es.
Wind fuhr heulend durch seine Wohnung und warf die Tür zum Ankleideraum mit einem lauten Knall zu.
Bloody hell …
Wilsons erster und sehr normaler Gedanke war, dass der Sturm einen Eichenast abgerissen und durchs Fenster geschleudert hatte. Gleich darauf kamen ihm die Worte und Beschreibungen des Dossiers von selbst in den Verstand und eröffneten ihm weitere Möglichkeiten.
Ich werde paranoid.
Er starrte auf den Ausgang. Unbewaffnet wollte er plötzlich nicht hinaus, auch wenn er sich dabei lächerlich vorkam. Seine beiden Pistolen, für die er eine Besitzerlaubnis besaß, bewahrte er im Tresor neben dem Eingang auf. Um sie zu erreichen, müsste er allerdings durchs Kaminzimmer.
Wilson nahm den schweren Kerzenleuchter vom Beistelltisch. Silber. Und mit spitzen Füßen.
Besser als nichts.
Dann ging er zur Tür, öffnete sie ruckartig.
Der Wind heulte noch immer. Leises Plätschern verriet, dass der Regen durch ein offenes Fenster auf die Fliesen fiel.
Wilson schluckte und spürte sein schnell pochendes Herz.
Es ist nur ein Ast. Oder ein Einbrecher,
sagte er zu sich selbst und versuchte, seinen Puls zu verlangsamen. So viel Adrenalin hatte er schon lange nicht mehr im
Blut gehabt.
Oder Vampire, Werwölfe, Dämonen … verfluchtes Dossier!
Er stahl sich durch die geöffnete Kaminzimmertür und verharrte, runzelte die Stirn.
Das Fenster hatte ein Loch und stand offen, kleine Rinnsale sickerten über den Boden. Im Sessel saß eine Gestalt in einem dunklen, nassen Anorak mit übergezogener Kapuze, die seinen Laptop auf dem Schoß hatte und das Dossier las. Mit der behandschuhten Rechten scrollte sie hoch und runter, in der Linken hielt sie eine große Pistole mit Schalldämpfer; der Unterarm lag entspannt auf der Sessellehne.
Kein gewöhnlicher Einbrecher.
Das Beruhigende: Vampire, Werwölfe und Dämonen würden sich vermutlich nicht die Mühe machen und eine Waffe mit Suppressor besorgen, um bei einem Butler einzusteigen. Wilson wog den Kerzenleuchter in der Hand. Nichtsdestotrotz war er unterbewaffnet.
»Wenn Sie lange genug da gestanden und mich angestarrt haben«, flüsterte der Einbrecher, ohne dass klarwurde, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, »könnten Sie uns einen Tee machen, Mister Wilson.« Die Hand mit der Pistole wurde kurz angehoben. »Keine Sorge. Ich glaube, lebend sind Sie
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