JULIA ARZTROMAN Band 26
habe keine Erste-Hilfe-Ausrüstung bei mir, nichts.“
Rasch zog er Mantel und Pullover aus und hüllte den schmalen Körper darin ein. Amy widmete sich unterdessen Alfies Kopfwunde, aus der noch immer Blut sickerte.
Kurz entschlossen wickelte sie ihren Schal ab. „Alfie, ich drücke jetzt meinen Schal darauf, damit es aufhört zu bluten. Im Krankenhaus sehen wir es uns dann genauer an.“
„Ich will nicht ins Krankenhaus. Ich will zu meiner Mum … Au!“ Er zuckte zusammen. „Das tut weh.“
„Tut mir leid, es muss sein.“ Geschickt wand sie ihm den provisorischen Druckverband um den Kopf.
Marco warf ihr einen anerkennenden Blick zu. „Gute Idee.“
„Not macht erfinderisch. So was lernst du in Afrika.“
In seinen Augen blitzte etwas auf, aber er sagte nichts, sondern wandte sich wieder seinem Patienten zu.
„Müssen wir denn ins Krankenhaus?“, fragte Alfie ängstlich. „Mum wird ausrasten.“
„Sie ist froh, wenn ihr in Sicherheit seid. Komm, setz dich hierher.“ Sie legte den Arm um ihn und stützte ihn, damit er auf den glatten Steinen nicht wieder ausrutschte. „Rühr dich nicht vom Fleck. Ich muss Dr. Avanti helfen.“
Ohne Schal spürte sie den eisigen Wind stärker. „Du frierst doch bestimmt“, sagte sie fröstelnd, als sie sich neben Marco kniete.
„Eddie braucht die Sachen. Er hat weniger Körperfett als ich.“
Unwillkürlich glitt ihr Blick zu ihm. Von Fett keine Spur. Unter dem dünnen T-Shirt zeichneten sich kraftvolle Muskeln ab, der Stoff umspannte beeindruckend breite Schultern.
Ein bedrohliches Rauschen, von einem Krachen gefolgt, lenkte sie ab und erinnerte sie daran, dass das Meer im Winter hungrig, ungnädig – und im Moment beängstigend nahe war. „Das war ein ziemlicher Brecher, Marco.“
„Ja“, erwiderte er sachlich. „Wenn der Hubschrauber nicht in fünf Minuten hier ist, müssen wir Eddie aus der Gefahrenzone schaffen. Ich bewege ihn ungern, aber uns wird nichts anderes übrig bleiben.“
Der Junge fing an zu wimmern, und sofort sprach Marco beruhigend auf ihn ein. „Ich hätte Sam bitten sollen, eine Decke mitzubringen.“
„Bis Sam zurück ist, dürfte der Hubschrauber da sein“, versuchte sie, optimistisch zu bleiben. „Warte, nimm meinen Mantel.“
„Kommt nicht infrage.“ Marco packte sie am Arm. „Lass ihn an. Du brauchst ihn.“
„Aber …“
„Keine Widerrede, Amy.“
Näher kommendes Rotorengeräusch beendete die Diskussion.
„Gut.“ Sichtlich erleichtert sah Marco dem Rettungshubschrauber entgegen, der wie ein riesiges Insekt am grauen Himmel auftauchte.
Minuten später schwebte er über ihnen, und gleich darauf wurde per Seilwinde ein Mann zu ihnen heruntergelassen.
„Wie viele Verletzte, Marco?“
Amy fragte sich, woher die beiden sich kannten, bis ihr einfiel, dass viele Sanitäter der Luftrettung ihre Fähigkeiten bei ortsansässigen Ärzten trainierten.
„Zwei, einer davon schwer. Sein Bruder sagte, er hätte bei dem Sturz das Bewusstsein verloren. GCS-Wert bei dreizehn, als wir ankamen …“ Knapp und präzise fasste er die Situation zusammen.
Es dauerte nicht lange, dann lag Eddie sicher festgeschnallt auf einem Rettungsbrett und wurde an Bord des Helikopters gehievt.
Alfie bekam vor Staunen den Mund nicht wieder zu. „Wow!“ Die Sorge um seinen Bruder war für einen Moment vergessen. „Ist ja cool!“
Marco streifte seinen Pulli über. „Du bist der Nächste.“
„Ich fliege auch mit? Wenn ich das in der Schule erzähle …!“
Bald darauf landete auch Alfie im Bauch des Hubschraubers. Marco hob die Hand, und die Maschine knatterte auf ihrem kurzen Weg ins Krankenhaus davon.
In der Bucht brachen sich tosend die Wellen, das Meer schien zu wüten wie ein wildes Tier, dem man im letzten Moment die Beute entrissen hatte. Amy zitterte vor Kälte. „Lass uns verschwinden“, stieß sie hervor.
„Hier, zieh das an.“ Marco legte ihr seinen Mantel um die Schultern, und plötzlich war sie von wundervoller Wärme eingehüllt.
„Du kannst mir doch nicht deinen Mantel geben“, protestierte sie.
„Natürlich kann ich“, antwortete er streng und knöpfte ihn ihr zu, als sei sie ein kleines Kind. Unerwartet lächelte er. „Du versinkst fast darin.“
„Du bist ja auch größer als ich.“
Seine Augen verdunkelten sich, und Amy errötete. Rasch wandte sie sich ab, um den Pfad hinaufzusteigen. Er war ein großer, attraktiver Mann … der ihr immer noch gefährlich werden konnte.
Oben auf der Klippe
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