Julia Extra Band 0328
erinnerte. Für sie war es zu spät gewesen. Sie war in einem fremden Land gestorben, das sie nie geliebt hatte. Vor langer Zeit hatte sich Leo geschworen, an den Ort zurückzukehren, dem seine Familie in Schande den Rücken kehren musste. Und den er um seiner Großmutter willen doch hasste, weil sie in dieser Stadt so gelitten hatte.
Die Familie Kassianides, der Grund für all den Schmerz und die Trauer, lebte immer noch in Athen. Erst jetzt, viel zu spät, hatten sie für all das gezahlt, was sie seiner Familie angetan hatten.
Und nun war er hier. Trotz ihres Zerwürfnisses hatte sein Vater ihn gebeten, nach Athen zu reisen. Seine Stimme hatte geschwächt geklungen, ganz anders als sonst, und das hatte Leo auf gewisse Weise berührt. Er hatte sich gezwungen gesehen zu kommen.
Wollte er sich vielleicht damit beweisen, dass er seinen Gefühlen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war?
Allein der Gedanke daran ließ ihn erschauern. Schon als Kind hatte er sich geschworen, sich nie von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen. Denn genau das hatte seine Mutter das Leben gekostet.
Er würde doch wohl in der Lage sein, das Haus seiner Vorfahren anzusehen, um ihm dann für immer den Rücken zu kehren!
Doch zunächst musste er sich damit auseinandersetzen, dass sein Vater ihm die Leitung des Reedereigeschäfts der Parnassus übergeben wollte. Leo hatte sein Erbe lange Zeit verleugnet. Stattdessen hatte er die Leitung verschiedener Tochtergesellschaften übernommen, die Finanzierung und Grundstückserschließung umfassten. Eben erst hatte er in New Yorks Lower East Side einen gesamten Block neu gestalten lassen.
Sein einziger Beitrag zum Kernunternehmen seines Vaters lag schon ein paar Jahre zurück. Damals hatten sie gemeinsam die Schlinge um Tito Kassianides’ Hals enger gezogen, des letzten verbliebenen Patriarchen der Kassianides-Familie. Es war das Einzige, was Vater und Sohn je verbunden hatte: der Wunsch nach Rache.
Unweigerlich musste Leo an seine Großmutter denken. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet und doch nie die Möglichkeit gehabt, ihre Heimatstadt wiederzusehen?
Ein diskretes Hüsteln riss ihn aus seinen Gedanken. „Entschuldigen Sie, Sir?“
Verwirrt sah Leo hoch. Der Steward deutete auf die nun offene Tür. Erneut verspürte Leo ein Ziehen in der Brust. Ihm schien beinahe, als würde draußen vor der Tür etwas Bedrohliches auf ihn warten. Diese Gefühle waren ihm so unangenehm, dass er abrupt aufstand, als könne er sie dadurch abschütteln.
Als er zur Tür ging, war er sich bewusst, dass sein Flugpersonal ihn beobachtete. Normalerweise störte ihn das nicht, er war Aufmerksamkeit gewöhnt. Doch jetzt war es ihm unangenehm.
Sengende Hitze schlug ihm beim Aussteigen entgegen. Obwohl er zum ersten Mal die Luft von Athen einatmete, überwältigte ihn ein Gefühl von intensiver Vertrautheit. Er hatte immer geglaubt, seine Großmutter zu verraten, wenn er den Boden von Athen betrat. Doch jetzt hatte er das Gefühl, sie stünde hinter ihm und würde ihn sanft vorwärtsdrängen. Ein zutiefst verstörendes Gefühl für einen Mann, der sich sonst von seiner Vernunft leiten ließ.
Er versteckte seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille, während ihn eine Gänsehaut überlief. Denn er ahnte, dass sich von nun an sein ganzes Leben ändern würde.
Zur selben Zeit am anderen Ende von Athen
„Jetzt atme erst einmal tief durch, Delphi, und dann sagst du mir, was los ist. Sonst kann ich dir nicht helfen.“
Doch die Worte beschworen nur eine neue Flut von Tränen herauf. Angel griff nach einem weiteren Taschentuch, während es ihr eiskalt über den Rücken lief. Ihre jüngere Halbschwester sagte mit zittriger Stimme: „Ich habe nichts Böses getan. Schließlich bin ich Jurastudentin.“
Angel strich ihrer hübschen Schwester besänftigend eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. „Ich weiß, Liebes. Was auch immer es ist, es kann doch nicht so schlimm sein. Sag es mir einfach, dann sehen wir weiter.“
Delphi war introvertiert und viel zu still. Sie war schon immer so gewesen, und seit ihre Zwillingsschwester vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte sie sich noch mehr in sich selbst zurückgezogen und in ihre Bücher vergraben. Deshalb registrierte sie zunächst nicht, als ihre Schwester leise sagte: „Ich bin schwanger …“
Erst als Delphi noch einmal ansetzte, diesmal mit lauterer Stimme, drangen deren Worte zu ihr durch.
„Hast du
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