Julia Extra Band 0350
Molly Cooper
Betrifft: Adresse in Clapham
Lieber Patrick,
ich war dort, und es war einer der bedeutsamsten Tage meines Lebens!
Bis heute wusste ich über meinen Vater nur das, was meine Großmutter mir erzählt hatte. Demnach war er ein überaus attraktiver Charmeur, der zwar nie viel Geld verdient, aber meine Mutter trotzdem sehr glücklich gemacht hat. Bei meiner Geburt soll er vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen gewesen sein, und als ich einmal eine Woche lang unter Koliken litt, hat er mich angeblich Tag für Tag stundenlang durch die Wohnung getragen, um mich zu beruhigen.
Das sind nicht gerade viele Informationen, aber ich war ganz zufrieden damit. Schließlich konnte ich mich kaum an meine Eltern erinnern und habe sie daher auch nie vermisst. Ich hatte meine warmherzige und liebevolle Gran, die mich anbetete und mir alles gab, was ich brauchte.
Umso mehr hat es mich verblüfft, dass ich seit meiner Ankunft in London ständig an Charlie Cooper denken musste. Egal wo ich mich befand – immer habe ich mich gefragt, ob mein Dad auch einmal dort gestanden und genau dasselbe gesehen hat.
Als ich heute in Clapham ankam, war es wieder so, nur ungefähr hundert Mal stärker. Von jedem Laternenpfahl, jeder Hauswand schien etwas geradezu Schicksalhaftes auszugehen. Ist der kleine Charlie auf seinem Weg zur Schule hier vorbeigekommen? Hat er sich an dem Kiosk dort ein Eis gekauft? Oder einen Satz Murmeln in dem Spielzeuggeschäft schräg gegenüber?
Dann bog ich in die Rosewater Terrace ein, eine lange, schmale Straße mit gepflegten mehrstöckigen Backsteinhäusern, die alle keine Vorgärten haben, sondern direkt auf den Bürgersteig hinausgehen. Als ich vor der Nummer 16 stehen blieb, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich starrte auf die geschmackvoll in Weiß und Grau gehaltene Haustür mit dem glänzenden Türknauf und spürte den unwiderstehlichen Drang, einfach anzuklopfen.
Aber was sollte ich sagen, wenn jemand aufmachte? Dass mein Vater einmal hier gewohnt hat und ich liebend gern einen Blick ins Hausinnere werfen würde? Wie würden die neuen Bewohner darauf reagieren? Hätten Sie für meine Bitte Verständnis oder würden sie mir einfach die Tür vor der Nase zuschlagen?
Ich stand immer noch da und kämpfte mit mir, als eine verhutzelte alte Dame mit einer Gießkanne in der Hand aus dem Nachbarhaus geschlurft kam.
„Ich habe gerade meine Pflanzen gegossen, als ich Sie sah“, rief sie mir zu. „Haben Sie sich verlaufen, meine Liebe?“
Sie hatte ein so liebes, freundliches Lächeln, dass ich ihr einfach sagte, wer ich war, und warum ich gekommen bin. Es muss eine Art göttliche Eingebung gewesen sein, denn kaum hatte sie den Namen Charles Cooper gehört, sind ihr fast die Augen aus dem Kopf gefallen. „Dann sind Sie also Charlies Tochter“, stellte sie ganz gerührt fest. „Du liebe Zeit, Sie sind ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Nach diesen Worten lud Daisy (ihr voller Name lautet Daisy Groves) mich in ihr Haus ein, und wir verbrachten einen herrlich nostalgischen Vormittag miteinander. Ich erfuhr, dass sie seit ihrer Hochzeit vor fast sechzig Jahren dort lebt und dass mein Dad drei Tage vor ihrer Tochter Valerie im selben Krankenhaus zur Welt gekommen ist.
„Charlie und Val waren die dicksten Freunde“, berichtete Daisy mir. „Ich hatte immer gedacht, dass die Zwei eines Tages …“
Sie hat den Satz nicht beendet, doch mir war klar, dass sie die beiden gern als Paar gesehen hätte. Leider (oder besser glücklicherweise) ist nichts daraus geworden, denn Charlie sehnte sich nach Abenteuern und begab sich auf eine Weltreise, sobald er genug Geld gespart hatte. In den ersten Monaten hat er Valerie noch hin und wieder geschrieben, dann lernte er meine Mum in Australien kennen, und das war das Ende der Geschichte (Valerie heiratete einen Elektriker und lebt jetzt in Peterborough).
Zum krönenden Abschluss hat Daisy mir noch einige Fotos von Charlie als Kind gezeigt. Eigentlich waren es Fotos von Valerie, aber auf fast allen war auch er irgendwo zu sehen (in der Regel damit beschäftigt, irgendwelche Grimassen zu schneiden oder die Finger hinter Valeries Kopf hochzuhalten, als hätte sie Hasenohren).
Vielleicht klingt es seltsam, aber im Nachhinein kommt es mir fast so vor, als wäre diese Spurensuche der eigentliche Grund für meine Reise nach London gewesen. Jedenfalls habe ich jetzt nicht mehr dieses große schwarze Fragezeichen in mir,
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