Entzweit : Vereint (ambi : polar) (German Edition)
Das war eindeutig nicht meine beste Woche. Im Gegenteil, sie war eigentlich sogar ziemlich mies. Und das, obwohl sich die vergangenen Wochen der letzten achtzehn Jahre meines Lebens vor Ereignisreichtum nicht gerade überschlagen hatten. Und dies eigentlich die beste Woche meines Lebens hätte werden sollen. Doch wie immer kam es anders als gedacht. Wenigstens etwas, auf das man sich verlassen konnte.
Ich marschierte missmutig strammen Schrittes durch die nassen, kalten Straßen von Paris. Auch das hatte ich mir anders vorgestellt. Irgendwie lebendiger. Doch eben war das Einzige, was durch die Straßen huschte, der eisige Wind und einige vertrocknete Blätter, die er wie willenlose Marionetten vor sich hertrieb. Die Straßen wirkten wie ausgestorben. Und das obwohl Freitagabend war. Der Tag, an dem das Pariser Nachtleben meine Ankunft in der Stadt feiern sollte.
So hatte ich es mir zumindest vorgestellt , in meinen schwärmerischen, bunten Träumen. Doch dem Anschein nach, hatte ich mir so einiges besser vorgestellt, als die Realität es mir bieten konnte. Zum Beispiel was das Treffen selbständiger Entscheidungen anging.
Anstatt näm lich wie die meisten Erstsemesterstudenten ein lausiges zwölf Quadratmeterzimmer in einer quirligen und lebhaften Studentenwohngemeinschaft mein eigen nennen zu dürfen, und damit automatisch Teil einer Gruppe junger Leute zu sein, musste ich in die Wohnung meiner Schwester ziehen, weil meine Eltern das für vernünftiger hielten und mir kein Geld für ein sündiges Zusammenhausen mit ungläubigen Rabauken leihen wollten. Soviel zu meinem Wunsch nach einem Leben in Unabhängigkeit und Freiheit.
Ich hatte mehr erwartet. Viel mehr. Es sollte mein Neuanfang in ein besseres Leben werden. Naja, eigentlich überhaupt in ein Leben. Ich hatte nämlich das Gefühl, noch nie so richtig gelebt zu haben.
Die letzten achtzehn Jahre meines so genannten Lebens hatte ich in der Enge eines kleinbürgerlichen, Fortschritt verachtenden Dorfes verbracht, in dem abends Punkt achtzehn Uhr die Bürgersteige hochgeklappt wurden und das einzige Unterhaltungsprogramm darin bestand, sich gegenseitig kritisch zu beäugen und mit mittelalterlichen Geschichten die „gute alte Zeit“ zu verherrlichen. Manchmal war ich mir vorgekommen, wie in einer Zeitschleife gefangen, die vollkommen stillstand und den Rest der Welt an sich vorbeiziehen ließ, während das Dorf und seine Bewohner für immer darin festsaßen.
Doch zum Glück hatte ich endlich den Absprung geschafft. Kaum das Abi tur in der Tasche, war ich geflohen, hierher nach Paris. Um endlich das Leben zu führen, das ich mir so ersehnte, das ich mir in meiner Phantasie in den buntesten Farben ausgemalt hatte.
Nur um wieder einmal enttäuscht zu werden. Im Moment kam mir Paris nicht besser vor, wie das trübselige Dorf aus dem ich geflohen war. Selbst das Wetter ähnelte sich. Es war grau, trübe und regnete diesen feinen Nieselregen, der einen zwar nicht richtig nass machte, aber einen Feuchtigkeitsnebel in der Luft hinterließ, der einen frösteln ließ.
Griesgrämig ging ich die menschenleere Straße entlang. Meinen Kopf unter der Kapuze meiner Regenjacke verborgen und beobachtete wie der Regen die hoffnungsvollen Bilder meiner Teenagerträume langsam aber sicher verwischte, bis nur noch verschwommene schmutzig graue Schlieren davon übrig blieben.
Ich hatte so gehofft, endlich irgendwo dazu zu gehören. In meinen schillernden Träumen hatte ich mich mit meinen Kommilitonen durch die geschichtsträchtigen Gänge der Sorbonne flanieren sehen. Endlose Diskussionen über gesellschaftspolitische Themen führen hören, deren Klang ehrfürchtig lange an den alten, steinernen Mauern widerhallte und mich zu einem, wenn auch unbedeutenden, so doch zumindest existenten Mitglied der Nachkommen der Garde der großen Literaten und Philosophen der Welt gemacht hätte.
Doch bereits in der ersten Woche waren diese Seifenblasenträume zerplatzt. Von der altehrwürdigen Atmosphäre war nicht mehr viel übrig, die Sorbonne glich einer Massenuni. Mit einer erschreckend hohen Studentenzahl, hoffnungslos überfüllten riesigen Hörsälen und einer Anonymität und Gleichgültigkeit, die mich mehr einschüchterte, als ich erwartet hätte.
Nicht, dass ich es gewohnt gewesen wäre, besonders beachtet zu werden, aber das völlige Desinteresse meiner Professoren und auch meiner Kommilitonen mir gegenüber war dann doch unerwartet. Dabei hatte ich mir diese Anonymität
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