Julia Extra Band 357
nicht mehr, was normale Angst war.
„Verständlich.“
„Vermutlich hast du keine Lust auf eine Unterrichtsstunde, oder? Ich meine, da du schon hier bist …“
Er lächelte. „Vielleicht. Aber erst nach dem Essen.“
Neo schickte seinen Leibwächter los, um etwas zu essen zu holen, und Cass war überrascht, dass sie tatsächlich Hunger hatte und essen konnte.
„Dein Manager wollte bleiben, um mit dir zu reden“, sagte Neo wie nebenbei, als sie mit dem Essen fertig waren und das Geschirr zusammenräumten. „Ich habe ihn weggeschickt.“
„Danke. Wahrscheinlich wollte er mich überreden, Interviews zu geben.“
„Den Eindruck hatte ich auch.“ Und das hatte Neo ganz und gar nicht gefallen.
„Er meinte, das würde den CD-Absatz ankurbeln.“
„Wann hat er dir das gesagt?“
„Ich habe ihn angerufen, bevor ich in deiner Firma anrief. Ich weiß nicht einmal, warum ich in deinem Büro angerufen habe. Ich habe nicht vernünftig überlegt.“
„Ich bin froh, dass du es getan hast. Schließlich bin ich der Grund für das Problem. Daher sollte ich auch für die Lösung sorgen.“
„Ich glaube, Neo Stamos, du bist ein guter Mensch.“
Er wirkte völlig überrumpelt von ihren Worten, fing sich aber schnell wieder. „Das fasse ich als Kompliment auf.“
„Es war auch so gemeint.“
Neo blieb bis neun Uhr, auch wenn sie keine Unterrichtsstunde mehr abhielten. Als Cass immer öfter gähnte, verabschiedete er sich.
„Du brauchst Ruhe, geh schlafen.“
Cass lachte leise. „Ja, ich bin völlig fertig. Ich gehe gleich zu Bett.“
Als sie ihn an der Tür verabschiedete, hoffte sie für einen Moment, dass er sie küssen würde, doch er drückte nur leicht ihre Schulter. Und während sie die Tür hinter ihm schloss, schüttelte sie über ihre eigene Dummheit den Kopf. Warum sollte ein Mann wie Neo Stamos sie küssen? Sie spielte nicht in seiner Liga. Und dann war da ja auch noch ihr Problem.
Nein, sie versteckte sich nicht in ihrem Haus. Selbst wenn sie die meisten Dinge online bestellte, so ging sie doch auch einkaufen, in dem kleinen Supermarkt um die Ecke und manchmal auch in Kaufhäusern. Sie machte ihre Aufnahmen im Studio, solange die Crew immer dieselbe war – und Bob niemanden mitbrachte, der zusehen wollte. Aber das tat er schon lange nicht mehr, nachdem sie sich schlichtweg geweigert hatte, vor selbst kleinstem Publikum zu spielen, und einfach gegangen war. Ihre Agoraphobie zeigte sich hauptsächlich dann, wenn sie vor Publikum auftreten sollte. Außerdem löste die Vorstellung, dass Fremde in ihr Heim, in ihren Zufluchtsort eindrangen, immer eine lähmende Angst in ihr aus.
Wie lange hätte sie wohl dort im Bad gesessen, wenn Neo nicht gekommen wäre? Sie konnte nicht sagen, warum Neos Anwesenheit sie so beruhigte, aber sie war ihm unermesslich dankbar dafür.
3. KAPITEL
Am nächsten Morgen arbeitete Cass an einem Stück für ihre neue CD, als es an der Haustür klingelte. Sie ignorierte es. Neos Presseerklärung war herausgekommen und müsste eigentlich alle Gerüchte zerschlagen haben. Was nicht hieß, dass nicht doch ein gewiefter Reporter noch einen Kommentar von der „unnahbaren Pianistin“ zu ergattern hoffte. Sicher würden einige nicht locker lassen, schließlich brachte eine geheime Liebschaft zwischen dem Milliardär und der Pianistin höhere Auflagenzahlen als harmlose Klavierstunden.
Es klingelte ein zweites Mal, doch Cass sah nicht ein, warum sie an die Tür gehen sollte. Sie erwartete niemanden, und Freunde oder Geschäftspartner wussten, dass sie vorher anrufen mussten.
Dann schrillte das Telefon. Cass stieß einen frustrierten Seufzer aus. Wenn das so weiterging, würde das Stück nie Form annehmen, bei den ständigen Unterbrechungen.
Sie erhob sich und nahm das Telefon auf. „Hallo?“
„Miss Baker?“
„Ja.“ Wieso rief Neos Assistentin sie an? Ach ja, richtig … „Sie wollen eine Empfehlung für einen Flügel haben.“
„Nein, deshalb rufe ich nicht an.“
„Oh.“ In Cass machte sich Enttäuschung breit. „Muss Mr Stamos für nächste Woche wieder absagen?“ Vielleicht wollte er ja überhaupt nicht mehr kommen. Nach den Geschehnissen von gestern würde es sie nicht wundern.
„Nein.“
Vielleicht sollte sie endlich mit dem Raten aufhören, wenn sie doch nur falsch lag. Es wurde langweilig, wenn keine Chance bestand, das Rätsel zu lösen. Zudem behagten ihr die Vermutungen nicht, die ihr in den Kopf schossen.
Die Frau am anderen Ende
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