JULIA FESTIVAL Band 89
waren.
Irgendwann mitten in der Nacht gab Ty den Versuch einzuschlafen auf und ging ins Arbeitszimmer. Wenn er ohnehin nicht schlafen konnte, dann konnte er die Zeit auch nutzen und arbeiten.
Vielleicht wurde er seine Rastlosigkeit dann los. Nein, es ist eher Erregung, gestand er sich ein. Wieso bloß hatte er die Hände nicht von Nicole lassen können? Bereute er jetzt etwa, was er getan hatte? Aber hatte er sich nicht vorgenommen, das Leben in vollen Zügen zu genießen?
Arbeiten war genauso unmöglich wie schlafen, wenn man körperlich erregt war. Also schaute er nach seinen E-Mails und sah, dass Margaret Mary ihm geantwortet hatte.
Lieber Ty Patrick O’Grady aus Dublin. Natürlich willst Du wissen, wer ich bin. Meinen Vornamen kennst Du ja schon. Mein ganzer Name ist Margaret Mary Mulligan. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, stamme aus Dublin und bin die Tochter von Anne Mary Mulligan. Damit sind wir Halbge schwister. Vielleicht haben wir sogar denselben Vater, aber ich kenne meinen Vater nicht. Wie Du sicher weißt, ist un sere Mutter tot. Jetzt bist Du mein einziger Angehöriger, und ich möchte Dich kennenlernen. Bitte schreib zurück.
Margaret Mary
Ty starrte auf den Bildschirm, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Er hatte eine Schwester? War das denn möglich?
Er dachte an seine Mutter, die keinem Ärger und keinem Mann aus dem Weg gegangen war. Durchaus möglich, dass er Geschwister hatte. Seufzend begann er die E-Mail zu beantworten.
Liebe Margaret Mary
Was sollte er denn jetzt schreiben? Wie geht’s? Das war zu förmlich.
Was willst du von mir? Nein, das klang zu aggressiv.
Er fing noch einmal von vorn an.
Liebe Margaret Mary aus Dublin.
Ty musste lachen. Jetzt schrieb er ja schon so förmlich wie seine Halbschwester. Dann erstarb sein Lächeln. Dieser Kontakt konnte ihm nur unschöne Erinnerungen bringen. Also schrieb er:
Wieso jetzt? Wieso ich? Kann es nicht Dutzende von uns ge ben? Versuch’s doch bei einem von den anderen. Ty Patrick O’Grady
Er schickte die Nachricht ab und saß schweigend da, bis der Computer piepte, weil eine E-Mail eingetroffen war.
„Du kannst also auch nicht schlafen“, sagte er leise und öffnete die Nachricht.
Lieber Ty. Ich bin so froh, dass Du geantwortet hast. Nein, außer uns beiden gibt es niemanden, das hat Mutter mir kurz vor ihrem Tod gesagt. Man wusste zwar nie, ob sie die Wahrheit sagt, aber in diesem Punkt glaube ich ihr. Nur wir beide sind noch da. Bist Du nicht neugierig? Margaret Mary
Nein, dachte Ty. Neugierig bin ich nicht. Am liebsten würde er die Vergangenheit vergessen. Ihn interessierte nur, dass er viel erreicht hatte.
„Nur wir beide sind noch da.“ Das klang traurig. Offenbar gefiel es Margaret Mary weit weniger als ihm, keinerlei Bindungen zu haben. Sicher war sie noch sehr jung und hatte ein Wunschbild von einer Familie, das er längst begraben hatte.
Ach, was soll’s, dachte Ty. Ich kann auch antworten.
Margaret Mary, wenn Du Dich nach einer Familie sehnst, dann vergiss es. Trösten war noch nie meine Stärke. Falls Du Geld brauchst, dann kann ich nur hoffen, dass unsere Mutter Dir etwas vererbt hat. Lass es lieber auf sich beru hen. Ty Patrick O’Grady
Es ist besser so, dachte Ty. Ich bin so lange allein gewesen, dass ich keinen anderen Menschen in meiner Nähe gebrauchen kann. Er war Einzelgänger, und er wollte keine dauerhaften Bindungen eingehen, weder zu einer überraschend aufgetauchten Schwester noch zu Nicole.
Feste Beziehungen sind nicht meine Stärke, sagte er sich.
Da Ty die Nacht jetzt als für ihn beendet betrachtete, holte er die Pläne von Taylors Haus hervor und machte sich an die Arbeit. Heute wollte er sich mit dem Dachboden beschäftigen. Taylor wollte sich dort einen Speicher einrichten, in dem sie die Antiquitäten aufbewahren konnte, die sie nach wie vor sammelte.
Da er nicht noch einmal Nicole begegnen und sich von ihr ablenken lassen wollte, beschloss Ty, jetzt gleich hinzufahren und sich den Dachboden anzusehen. Zu dieser Uhrzeit arbeitete Nicole sicher noch im Krankenhaus, und er würde niemanden stören.
Ty machte sich auf dem Dachboden gerade ein paar Notizen, als er hörte, dass eine Tür geöffnet wurde. Das Geräusch war so laut, dass er sich verwundert umsah. Offenbar stand er direkt über Nicoles Apartment.
Das Dach zog sich im Grunde über zwei Stockwerke. Ganz oben war der Spitzboden, in dem er gerade stand, und darunter befand sich die Dachwohnung, in der Nicole
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