Julia Gold Band 0045
unverfänglicheren Thema. „Könnten wir nachher mal über den Markt gehen?“, fragte sie.
Kaifar warf ihr einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. „Sie wollen dort etwas einkaufen?“
„Erst möchte ich mir das Angebot ansehen.“ Es war lange her, dass sie das bunte Treiben auf einem Markt erlebt hatte, und zwar bei einer Ferienreise nach Italien, als sie dreizehn gewesen war. Es war ein Fest für die Sinne gewesen, die Farben, die Klänge, die Düfte und die Menschen. Nicht mal der Tadel ihres Vaters hatte dieses Erlebnis beeinträchtigen können.
Ein diskretes Schild im Vorhof der atemberaubend schönen Moschee verkündete in mehreren westlichen Sprachen: „Sie betreten einen geweihten Ort, wo die Gläubigen sich jederzeit der Andacht widmen. Bitte achten Sie unsere Gebräuche. Männer und Frauen sollten geziemend gekleidet sein. Frauen werden gebeten, ihr Haar zu bedecken. Tücher dafür gibt es am Haupteingang.“
Ganz in der Nähe saß ein alter Bettler, einen weißen Turban auf dem Haupt. Der lange Bart hing ihm bis auf die Brust. Seine Augen leuchteten. Eine schmutzige, umhäkelte Kappe lag vor ihm auf dem Boden und zeigte die mageren Einkünfte, die er an dem Morgen erzielt hatte. Kaifar blieb stehen, beugte sich vor und streckte seine Hand aus. „Salaam aleikum“, sagte er.
Der Bettler hob ihm seine knochige Hand entgegen und nickte dankend. Er verstärkte den Griff um Kaifars Hand und beugte sich vor, um sie zu küssen. „Waleikum salaam, Sayedi“, erwiderte er förmlich. Dann ließ er Kaifar los und blickte auf den Schein, der den Besitzer gewechselt hatte, und sah auf. Schmunzelnd strich er sich dann über den Bart und sagte etwas zu ihm, auf das Kaifar mit einem Lachen und einer Bemerkung reagierte. Der alte Mann lachte laut auf und ließ den Schein in seinem Mantel verschwinden.
„Geben Sie Bettlern immer etwas?“, fragte Caroline beim Weitergehen. Sie dachte an David, der sich geweigert hatte, ein Wohltätigkeitslos zu kaufen. Er gab niemals einem Bettler etwas. „Die haben doch alle eine Eigentumswohnung, Caroline. Lass dich nicht täuschen.“
Kaifar lächelte. „Almosen gehören zu den Säulen des Islam. Hat Jesus das nicht auch von seinen Anhängern gefordert?“
„Interessiert es Sie nicht, ob diese Bettler überhaupt ein Recht dazu haben?“
„Ein Recht dazu?“
„Vielleicht sind sie gar nicht bedürftig, wissen Sie. Es kann doch sein, dass sie sich so auf leichte Weise ihren Lebensunterhalt verdienen.“
„Gibt es denn in Ihrem Land keine wirklich Armen?“
Hitze stieg ihr in die Wangen. „Doch, sicher.“
„In Barakat gibt es sehr viele Arme. Aber selbst wenn es so wäre, wie Sie eben gesagt haben, Caroline, wäre das für ihn problematisch, nicht für mich.“
„Ja?“, fragte sie verwundert.
Als wäre es selbstverständlich, erklärte Kaifar ihr: „Natürlich, das muss er mit sich und Gott ausmachen. Ich soll Bettlern geben, nicht ihr Gewissen überprüfen.“
Caroline blickte auf ihren blitzenden Diamantring. Ich habe Davids Antrag nicht angenommen wegen seiner Religion oder seines Charakters oder seiner Moral, erinnerte sie sich, sondern weil er reich ist.
Vor den kostbar verzierten Türen der Moschee hielt Caroline an, entfaltete ihr Tuch und legte es sich um den Kopf.
Kaifar war ein erstaunlicher Führer, sehr informiert und wortgewandt. Für einen Augenblick gingen ihre Gedanken zu David. Er wusste auch sehr viel auf seinem Gebiet. Aber entweder lag es an Davids Art, oder Carolines natürliches Interesse an Barakat war größer als am alten Griechenland und Rom. Kaifar begeisterte Caroline mit der Schilderung von Königin Halimah und ihren großen Taten. Sie hatte Straßen, Brücken, Krankenhäuser und Moscheen für ihr Volk bauen lassen. Er berichtete ihr von den Handwerkern, die für den Bau der Moschee eingestellt worden waren, und Caroline vermochte über deren Können nur zu staunen. Voll Bewunderung betrachtete sie die hohen gewölbten Decken, die mit Blattgold verzierte Schrift und die wunderschön gearbeiteten Mosaikmuster.
Kaifar versuchte nicht, sie zu belehren, wie David es tat. Er erzählte ihr Geschichten, teilte Geheimnisse mit ihr, brachte sie zum Lachen und Seufzen und öffnete ihr die Augen. Ohne dass sie es merkte, begann Caroline sich an seine starke Schulter anzulehnen, als ob sie ein Recht darauf hätte. Am Ende der Führung fühlte sie sich inspiriert von allem, was sie gesehen und gehört hatte.
Der Ruf des Muezzin
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