Julia Quinn
und
wirbelte zu ihrem Bruder herum. »Das hat er nur wegen dir
gesagt!«
»Ich habe doch gar nichts gemacht«,
verteidigte sich Daniel.
»Ich hasse euch!«, erklärte sie mit
gepresster Stimme. »Ich hasse euch alle beide.« Dann schrie sie
es noch einmal heraus:
»Ich hasse
euch! Vor allem dich, Marcus. Ich hasse dich!«
Und dann rannte sie ins Haus,
so schnell ihre dünnen Beinchen sie tragen wollten, was nicht sehr schnell
war. Marcus und Daniel standen da und sahen ihr schweigend nach.
Als sie beinahe am Haus
angekommen war, nickte Daniel und sagte: »Sie hasst dich. Jetzt gehörst du ganz
offiziell zu unserer Familie.«
Und so war es auch. Von diesem
Augenblick an gehörte er dazu.
Bis zum
Frühling 1821, als Daniel alles kaputtmachte.
1. Kapitel
März
1824 Cambridge
Lady
Honoria Smythe-Smith war verzweifelt. Sie sehnte sich nach etwas Sonnenschein,
einem Ehemann und – sie betrachtete seufzend ihre kaputten blauen Slipper –
nach einem Paar neuer Schuhe.
Sie ließ sich auf die Steinbank vor Mr Hillefords Tabakladen für
den geschmacksbewussten Gentleman sinken und drängte sich an die Wand – in dem verzweifelten Bemühen (schon wieder dieses schreckliche Wort), sich vor dem Regenguss zu
schützen. Es regnete in Strömen. In Strömen. Es tröpfelte nicht, es
regnete nicht, es schüttete wie aus den sprichwörtlichen Eimern, wenn nicht gar
aus Fässern.
Aus großen Fässern.
Und es stank. Bisher hatte Honoria immer gedacht, Zigarrenrauch
wäre der übelste Geruch, den sie kannte, aber nun musste sie feststellen, dass
Moder noch schlimmer war: An der Außenwand von Mr Hillefords Tabakladen für den
geschmacksbewussten Gentleman, dem es egal war, wenn seine Zähne gelb wurden,
wucherte etwas verdächtig Schwarzes in die Höhe, das nach Tod und Verderben
roch.
Wirklich, könnte sie sich in einer noch schlimmeren Lage befinden?
Vermutlich. Aber es war schlimm genug. Denn sie war (natürlich)
völlig allein gewesen, als die ersten Regentropfen unvermutet zum Wolkenbruch
angeschwollen waren. Ihre Gefährtinnen kramten derweil selig in Miss Pilasters
warmem, gemütlichem Putzladen auf der anderen Straßenseite herum. Dort gab es
nicht nur hübsche Bänder und Spitzen zu bewundern, es roch auch sehr viel
besser als in (oder vor) Mr Hillefords Geschäftsräumen.
Miss Pilaster verkaufte Parfüm. Miss Pilaster verkaufte getrocknete
Rosenblätter und kleine Kerzen, die nach Vanille dufteten.
Mr Hilleford baute Schimmel an.
Honoria seufzte. Ihr Leben war ein Desaster.
Sie hatte nur noch rasch die Auslage eines Buchladens begutachten
wollen und ihren Freundinnen versprochen, gleich in Miss Pilasters Laden zu
ihnen zu stoßen. Doch dann trödelte sie zu lange herum, und gerade, als sie
endlich aufbrechen wollte, hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Ihr war
gar nichts anderes übrig geblieben, als unter der einzigen Markise Zuflucht zu
suchen, die auf der Südseite der Cambridge High Street zu finden war.
Betrübt starrte sie in den Regen, der auf die
Straßen prasselte. Die Tropfen schlugen mit beträchtlicher Macht auf dem Pflaster
auf, spritzen und stieben auf wie winzig kleine Explosionen. Der Himmel
verdunkelte sich zusehends, und wenn Honoria sich auch nur ein wenig mit dem
englischen Wetter auskannte, dann würde der Wind jeden Augenblick auffrischen –
und ihre erbärmliche Zuflucht unter Mr Hillefords Markise völlig nutzlos sein.
Unmutig verzog sie den Mund und spähte zum
Himmel empor.
Ihre Füße waren nass.
Ihr war kalt.
Und sie hatte England in ihrem ganzen Leben noch nie verlassen,
was bedeutete, dass sie sich mit dem englischen Wetter tatsächlich bestens
auskannte und ihr folglich in etwa drei Minuten noch elender und kälter sein
würde als jetzt.
Was sie eigentlich gar nicht für möglich
gehalten hatte.
»Honoria?«
Sie blinzelte und wandte den Blick vom Himmel zu der Kutsche, die
eben vor ihr zum Stehen gekommen war.
»Honoria?«
Diese Stimme kannte sie. »Marcus?«
Ach, du lieber Himmel, das hatte ihr zu ihrem Glück gerade
noch gefehlt. Marcus Holroyd, der Earl of Chatteris, der frohgemut in seiner
plüschigen Kutsche im Trockenen saß. Honoria merkte, dass ihr vor Überraschung
immer noch der Mund offenstand, obwohl es doch eigentlich gar nicht
erstaunlich war, dass sie Marcus hier traf. Er lebte schließlich in
Cambridgeshire, nicht allzu weit von der Stadt entfernt. Außerdem, wenn schon
jemand sie entdecken musste, während sie aussah wie eine völlig
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