Julia Sommerliebe Band 23
nicht gestört, er hatte seinen Sohn einfach gewähren lassen, statt ihn wegzuschicken.
Aber ich habe Zoe weggeschickt, schoss es Leandro durch den Kopf.
Sein Vater hatte immer Zeit und immer ein offenes Ohr für ihn gehabt. Er hatte Leandro bedingungslos geliebt. Und dann war er einfach so weggegangen. Das hatte unendlich wehgetan.
Tat Leandro jetzt etwa das Gleiche? Lief er auch vor seiner Verantwortung davon, und bewies damit nur, dass er auch nicht besser war?
Draußen färbte sich der graue Himmel langsam schwarz. Leandro schloss die Augen. Auf einmal war er nicht mehr wütend, sondern einfach nur unendlich traurig.
Bevor sich Zoe mit ihrem einzigen Koffer aus dem Haus schlich, ging sie in die Küche. Dort schrieb sie eine Nachricht an Leandro auf einen Zettel und bat ihn, ihren noch ausstehenden Lohn als Scheck an ein New Yorker Postfach zu schicken.
Die Tür zu Leandros Arbeitszimmer war verschlossen, und Zoe entschied sich dagegen, anzuklopfen und sich noch einmal von ihm zu verabschieden. Wir haben uns ja schon alles gesagt, was es zu sagen gibt, stellte sie traurig fest.
Sie legte das Blatt mit der Nachricht auf den Küchentisch. Hierhin, wo sie so oft gegessen und vertraute Gespräche geführt hatten.
Im Nieselregen trug sie ihren Koffer die Auffahrt hinunter, fuhr per Anhalter nach Menaggio und stieg dort in einen Bus nach Mailand. Am Flughafen dauerte es ein paar Stunden, bis sie einen Platz in einem Flieger bekam, aber in weniger als vierundzwanzig Stunden nach ihrer Auseinandersetzung mit Leandro war sie schließlich angekommen.
In ihrem billigen Zimmer in einer heruntergewirtschafteten Pension. Hier war sie Stammgast, man hatte immer ein Zimmer für sie frei. Trotzdem würde sie diese Bleibe kaum als Zuhause bezeichnen.
Es gab hier nur ein schmales Bett, einen ramponierten hölzernen Schreibtisch und ein vergilbtes Waschbecken mit einem Riss. Gerade im Vergleich zu der wunderschönen Villa – so renovierungsbedürftig sie auch war – wirkte der Raum abstoßend, ungepflegt und unpersönlich. Immerhin konnte sie sich die Miete leisten.
Am nächsten Morgen setzte Zoe sich mit der aktuellen Tageszeitung und einem roten Filzmarker in das kleine Café der Pension, das sich im Erdgeschoss befand und halbwegs ansehnlich war.
Sie bestellte Kaffee und Rührei und ging die Stellenanzeigen durch. Dabei suchte sie in der gewohnten Rubrik nach den gewohnten Angeboten: Jobs als Zimmermädchen, Zeitarbeit und sonstige schlecht bezahlte befristete Tätigkeiten.
Allerdings legte sie die Zeitung diesmal schon nach wenigen Minuten wieder zur Seite. Ich will das alles nicht mehr, dachte Zoe und trank einen Schluck Kaffee.
Aber was sollte sie sonst machen? Wie funktionierte das überhaupt, wenn man sich ein eigenes Leben aufbauen wollte? Einmal hatte sie es ja schon versucht, aber daraus war nichts geworden.
Vielleicht sollte sie es einmal mit einer anspruchsvolleren Arbeit probieren? Aber war sie dazu überhaupt in der Lage? Sie war ja persönlich schon völlig haltlos, da war es sicherer, sie nahm einen Job an, der sie nicht lange an einen Ort oder ein soziales Umfeld band.
Eine Träne rann ihr über die Wange. Schnell hob Zoe die Tasse und nahm einen Schluck Kaffee. Das wäre ja wohl noch schöner, wenn sie hier mitten in diesem belebten Diner in Tränen ausbrechen würde!
„Du bist ja wirklich verdammt schwer zu finden.“
Zoe zuckte zusammen und hätte fast ihren Kaffee verschüttet. Mühsam konzentrierte sie sich noch für einen Moment und stellte die Tasse ab.
Hatte sie Halluzinationen, oder sprach da wirklich der Mann, dessen Stimme sie erkannt zu haben meinte? Langsam hob sie den Kopf und blinzelte. Und gleich noch einmal. Aber Leandro löste sich dadurch nicht in Luft auf.
Er trug Jeans und ein T-Shirt und hatte sich offenbar seit zwei Tagen nicht mehr rasiert. Und er sah zum Anbeißen aus. War er wirklich echt?
Alles deutete darauf hin.
„Was … machst du denn hier?“, erkundigte sich Zoe, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. Ihr Herz hämmerte heftig.
„Ich habe dich gesucht. Ich hätte nie gedacht, dass du mich so schnell sitzen lässt.“
„Aber du hast mir doch klar und deutlich gesagt, dass du dir nicht dasselbe wünschst wie ich“, entgegnete sie leise. Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen, und schon lief ihr die erste verräterisch über die Wange.
„Stimmt, das habe ich“, sagte Leandro. Dann wies er auf den Plastikstuhl ihr gegenüber. „Darf
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