Julie oder Die neue Heloise
mir übrigens auch nöthig, die Wirkung des Buches abzuwarten, ehe ich mich über das, was schlimm und was gut daran ist, auslassen dürfte, denn ich wollte weder dem Buchhändler Schaden thun, noch die Nachsicht des Publikums erbetteln.
N. Ich bringe Ihnen Ihr Manuscript zurück; ich habe es ganz zu Ende gelesen.
R. Ganz zu Ende? Ich verstehe; Sie glauben, daß Wenige Ihnen das nachthun werden.
N. V
el duo, vel nemo. [„Zwei oder Keiner.“]
R. Turpe et miserabile
[„O schändlich und Jämmerlich. Satyr. I, 3.“].
Aber ich wünsche ein bestimmtes Urtheil.
N. Ich wage nicht —.
R. Was wäre noch zu wagen, nachdem dies Wort heraus ist? Also sprechen Sie!
N. Mein Urtheil hängt von der Antwort ab, welche Sie mir jetzt geben werden. Ist dieser Briefwechsel wahr oder erdichtet?
R. Ich sehe nicht ein, was das zur Sache thut. Was nutzt es, um zu entscheiden, ob ein Buch gut oder schlecht sei, daß man wisse, wie es entstanden ist?
N. In diesem Falle nutzt es viel. Ein Porträt hat immer seinen Werth, wenn es gleicht, möge das Original noch so wunderlich sein. Aber in einem erfundenen Gemälde muß jede menschliche Gestalt die allgemeinen menschlichen Züge an sich tragen, sonst taugt das Gemälde nichts. Gesetzt, es sind beide Bilder gut, so ist noch der Unterschied, daß das Porträt für wenige Personen ein Interesse hat; nur das Gemälde kann Allen gefallen.
R. Ich merke, wohin Sie wollen. Wenn diese Briefe Porträts sind, so interessiren sie nicht; sollen sie Gemälde sein, so schildern sie schlecht. Nicht wahr?
N. Das ist es.
R. Sie wollen mich Ihre Antworten weghaschen lassen, ehe Sie sie mir geben. Gut, aber da ich nicht im Stande bin auf Ihre Frage zu antworten, so werden Sie schon davon absehen müssen, um die meinige zu entscheiden. Setzen Sie den schlimmsten Fall: meine Julie —
N. O, wenn sie eine wirkliche Person wäre!
R. Nun?
N. Aber es ist sicher bloße Dichtung.
R. Nehmen Sie es so an.
N. In diesem Falle kenne ich nichts Abgeschmackteres. Diese Briefe sind keine Briefe, dieser Roman ist kein Roman; die handelnden Personen sind Wesen aus jener Welt.
R. Es thut mir leid, um diese Welt.
N. Trösten Sie sich! Es fehlt ihr ganz und gar nicht an Narren; die Ihrigen sind aber unnatürlich.
R, Ich könnte Ihnen .... Nein! ich sehe, wie Ihre Neugier hinten herum kommt. Was berechtigt Sie zu diesem Urtheil? Wissen Sie denn, wie weit die Verschiedenheit der Menschen gehen kann? Wie weit die Charaktere aus einander liegen und wie mannichfaltig sich nach Zeit, Ort, Alter die Sitten gestalten können? Wer darf es wagen, der Natur unwandelbare Grenzen zu setzen und zu sprechen: Bis hierher und nicht weiter?
N. Mit dieser schönen Floskel könnten Sie das Ungeheuerste, Riesen, Pygmäen, kurz, jede Ausgeburt der Einbildungskraft in die Natur hereinschaffen und das Unterste zu oberst kehren; wir würden gar kein allgemeines Vorbild mehr haben. Ich wiederhole, in einem Menschengemälde muß man den Menschen erkennen.
R. Das gebe ich zu, vorausgesetzt, daß man Alles, was dem Wechsel unterworfen ist, von dem, was der Gattung wesentlich angehört, zu unterscheiden wisse. Was würden Sie dazu sagen, wenn Einer den Menschen nur im modernen Leibrock erkennen wollte?
N. Was würden Sie dazu sagen, wenn Einer einen Menschen malen wollte und malte eine Gestalt ohne Gesicht, ohne Körper, ganz und gar in einen weiten Schleier gehüllt? Würden Sie nicht mit Recht fragen, wo denn der Mensch sei?
R. Ohne Gesicht, ohne Körper! Sind Sie gescheit? Keine vollkommene Menschen; das ist das ganze Ungeheuere.
Ein junges Mädchen, welches von der Tugend weicht, obgleich es sie liebt und durch den Abscheu vor einem größeren Verbrechen zur Pflicht zurückgeführt wird; eine zu gefällige Freundin, die ihr eigenes Herz zuletzt für das Uebermaß ihrer Nachsicht straft; ein junger Mann, der gesittet und gefühlvoll ist, sehr schwach allerdings und von vielen Phrasen; ein alter Herr, der auf seinen Adel stolz ist und Alles der Meinung aufopfert; ein Engländer, brav, edelmüthig, immer vor lauter Weisheit in Leidenschaft und aus lauter gutem Bedacht unbedächtig ....
N. Ein seelensguter und so gastfreundlicher Ehemann, daß er nichts Eiligeres zu thun hat, als den ehemaligen Liebhaber seiner Frau in sein Haus einzuquartieren ....
R. Ich verweise Sie auf die Unterschrift des Kupferstichs
[Des siebenten, welcher die Ankunft Saint Preur' auf Wolmar's Landgute vorstellt und die Unterschrift hat: „Wie schöne
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