Julie oder Die neue Heloise
nicht gäbe, wäre es noch gut, daß der Mensch sich mit diesem Gedanken unaufhörlich beschäftigte, um mehr Herr seiner selbst, glücklicher und weiser zu werden". Die Herrschaft über sich selbst, das Glück und die Weisheit der schönen Seele ist ja nichts anderes als der Gedanke, der sie beschäftigt; also ist es eben gut für sie, daß dieser Gedanke sie beschäftigt; denn Jedem ist das gut, was ihm gut dünkt.
Der schönen Seele hat nichts Irdisches genug gethan; das Uebermaß von sehnlichem Gefühl hat sie gezwungen, „zur Quelle selbst hinaufzusteigen". Freundschaft und Liebe, Hausstand, Kinder, Glück, nichts kann das verlangende Herz erschöpfen: es ist gezwungen, „den Ueberfluß seiner Gefühle“, d. h. seine nie zu befriedigende Begehrlichkeit, die nie auszufüllende, ewige Leere, „dem höchsten Wesen zuzutragen."
Das Herz hört niemals auf zu wünschen. Jeder Wunsch verwandelt sich ihm in eine Macht, von welcher er sich beherrscht, geknechtet fühlt. Um aus der Knechtschaft zu kommen, dichtet es sich immer höhere Mächte, denen es sich als rettenden in die Arme wirft. Von allen getäuscht, blickt es sehnsüchtig nach einer letzten, höchsten Macht aus. Und doch kann diese auch nicht anderen Wesens sein, als alle übrigen, immer nur eine Vorstellung, ein Traum, ein Geist, ein Gespenst des Herzens. Es bleibt ihm nichts als sein ewig wiederkehrender, ganz unbestimmter, inhaltsloser, leerer Wunsch. Dieser letzte, leere, bloße Wunsch ist ihm die Macht als solche, ist ihm sein höchstes Wesen.
Mit dem höchsten Wesen pflegt das Herz Umgang im Gebete. Saint-Preux meint, das Gebet helfe zwar nicht, aber sei doch nicht unnütz als ein Stärkungsmittel für den Schwachen. Sehr richtig. Julie versteht die Sache besser. Sie glaubt, Saint-Preux zu widerlegen, und sagt nur dasselbe in ihrer Weise, was er in der seinigen sagte. Im Gebete, sagt sie, sind wir frei, während wir sonst in Allem gebunden; wir haben nicht die Freiheit, das kleinste zu thun, aber die Freiheit — um Alles zu bitten.
Die letzte Consequenz dieser Ohnmacht und Leerheit ist der Quitismus. Davor warnt Saint-Preux. Julie antwortet ihm, es habe damit keine Gefahr, solange man seine Pflichten erfülle, und das Gebet nur zu seiner Erholung mache: Aber die Consequenz der Schönseligkeit ist dennoch nur der Quietismus, die gänzliche Regungslosigkeit, Stille und Versenkung in Gott. Das Höchste, Letzte, Aeußerste, wozu es das Gefühl bringt, ist die Fühllosigkeit, das Vergeben in sich selbst: erst der Durst, dann der Rausch, dann der Schlaf: der ewige Schlaf ist der Tod. Rousseau schreckt vor der Consequenz seines eigenen Standpunktes zurück. Aber dennoch hat er sich nicht erwehren können, sie zu ziehen. Das Ziel und Ende des schönseligen Lebens ist der Tod aller Affecte, der Tod selbst. Julie schreibt an Saint-Preux: „Noch einige Jahre Selbstbewachung und Sie haben keine Gefahr mehr von den Sinnen zu befürchten." Und von sich sagt sie: „Ich sehe um mich nur Befriedigendes und bin nicht zufrieden; eine geheime Sehnsucht beschleicht mein Herz. Ich fühle es leer und geschwellt. Es ist in ihm noch eine unbenutzte Kraft, mit der es nichts anzufangen weiß."
Es ist Zeit zu sterben. Die schöne Seele ist fertig mit sich und der Welt, nämlich ihrer Welt, d. h. mit ihrer Schönseligkeit. Ihre Leiden und Freuden, d. h. ihre Träume sind erschöpft. Sie ist sich selbst zum Ueberdruß geworden und sehnt sich doch ewig nach sich selbst. Als sie das Spiel mit sich selbst begann, forschte sie in ihren Tiefen nach sich, als dem Urbild ihrer und da sie ihrer satt geworden, setzt sie sich aus sich selbst heraus in die Fremde, in die Ferne, ins Unbekannte, das sie mit Recht ihre Heimat nennt, ins Jenseits. Der Wunsch des Herzens in seiner höchsten Vergeistigung, die reine, leere Macht, das unsagbare, unerkennbare, allmächtige Wesen ist doch immer nur Wunsch, gegenwärtig als ein nicht gegenwärtiges, die ewige Hoffnung. Sein Dasein ist das Gegentheil des Daseins, ein nicht daseiendes Dasein, das jenseitige Dasein.
*
Der Sieg des Herzens hat darin bestanden, daß es alle Besonderheiten, Stimmungen, Affecte, alle Bestimmtheit seines Wesens vernichtete, sich selbst aufhob, und in den Tod begrub. Da dies aber seine eigene That ist, da es also sich selbst nicht los werden kann, so ist der Tod zugleich seine Auferstehung.
Seine Auferstehung ist nur die Wiederholung seiner selbst, ist nur die Vorstellung seines ewigen Daseins für sich allein
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