Julie oder Die neue Heloise
ersten Augenblick, aber nach und nach fesseln sie, man kann nicht recht daran, aber auch nicht wieder davon kommen. Anmuth, gefälliger Styl ist nicht darin, auch nicht Verstand, Witz, Beredtsamkeit; nur Gefühl allein; es theilt sich unvermerkt dem Herzen mit und entschädigt zuletzt für alles Andere. Es ist eine lange Romanze, deren Verse einzeln genommen nichts Ergreifendeshaben, aber ihr Zusammenhang bringt zuletzt ihre Wirkung hervor. Dies ist mein Gefühl beim Lesen der Briefe: sagen Sie mir, ob Sie in dem nämlichen Falle sind.
N. Nein! Jedoch begreife ich, daß es Ihnen so ergeht. Sind Sie der Verfasser, so ist die Sache ganz einfach; wo nicht, so begreife ich es dennoch. Ein Mann, der in der Welt lebt, kann sich an die ausschweifenden Gedanken, an das übertriebene Pathos, an das ewige Faseln Ihrer guten Leute nicht gewöhnen. Ein einsamer Mensch mag daran Geschmack finden: Sie haben den Grund selber gesagt. Aber bedenken Sie, bevor Sie dieses Manuscript bekannt machen, daß das Publicum nicht aus Einsiedlern besteht. Das Glücklichste, was Ihnen begegnen könnte, wäre noch, daß man ihr gutherziges Bürschchen für einen Seladon, Ihren Eduard für einen Don Quixote, Ihre Dämchen für ein Paar Astreen nähme und sich daran wie an einer wahren Narrengesellschaft belustigte. Indessen lange Possen sind nicht belustigend: man muß wie Cervantes schreiben, um sechs Bände Phantasterei genießbar zu machen.
R. Der Grund, aus welchem Sie dieses Werk unterdrücken würden, macht mir Muth, es herauszugeben.
N. Wie! Die Gewißheit, nicht gelesen zu werden?
R. Eine kleine Geduld, und Sie werden mich verstehen.
In moralischer Hinsicht giebt es, meiner Meinung nach, keine Lectüre, die Weltleuten nützen kann. Erstlich, weil die vielen neuen Bücher, welche sie durchlaufen und welche eines ums andere das Für und Wider sagen, gegenseitig sich die Wirkung zerstören und Alles so gut wie nicht geschehen machen. Auserwählte Bücher, welche man wiederliest, machen auch keine größere Wirkung: sind sie im Sinne des Weltlebens geschrieben, so sind sie überflüssig, widersprechen sie demselben, so sind sie unnütz. Sie finden ihre Leser an die Laster der Gesellschaft durch Bande gekettet, welche sie nicht zerbrechen können. Der Weltmann, der einen Augenblick lang Willens ist, in sich zu gehen und seine Seele in die sittliche Sphäre zu versetzen, stößt auf unüberwindlichen Widerstand von allen Seiten und sieht sich jedesmal gezwungen, seinen alten Standpunkt zu behalten oder wieder einzunehmen. Ich bin überzeugt, daß es wenige gutgeartete Menschen giebt, welche nicht diesen Versuch, wenigstens einmal in ihrem Leben gemacht haben. Aber bald entmuthigt durch die Erfolglosigkeit der Anstrengung, erneuert man ihn nicht und gewöhnt sich daran, die Büchermoral als müßiges Geschwätz zu betrachten. Je weiter man sich von den Geschäften, von großen Städten, von zahlreichen Gesellschaften entfernt, desto mehr vermindern sich die Hindernisse. Es giebt eine Grenze, wo diese Hindernisse nicht mehr unüberwindlich sind und alsdann können Bücher von einigem Nutzen sein. Wenn man zurückgezogen lebt, so hat man bei dem Lesen nicht den Zweck, mit Belesenheit Staat zu machen und man liest daher nicht Bücher in Massen und denkt mehr nach über das, was man liest; da nun die Bücher weniger Gegengewicht von außen finden, so machen sie auch innerlich mehr Eindruck. Die lange Weile, diese Pest der Einsamkeit wie der großen Welt, nöthiget, zu unterhaltenden Büchern Zuflucht zu nehmen, der einzigen Hülfsquelle Dessen, der still für sich lebt und keine in sich selbst findet. Man liest mehr Romane in den Provinzen als in Paris, mehr auf dem Lande als in Städten, und sie machen da lebhafteren Eindruck. Sie sehen, warum das nicht anders sein kann.
Die Bücher aber, welche dem Landbewohner, der nur unglücklich ist, weil er sich dafür hält, zu gleicher Zeit Unterhaltung und Belehrung gewähren könnten, scheinen im Gegentheile nur darauf berechnet, ihm sein Leben noch mehr zu verleiden, indem sie das Vorurtheil, das ihn mit Geringschätzung desselben erfüllt, nähren und befestigen; Schönheiten, Modedamen, Große, Militairpersonen, das sind die Helden aller euerer Romane. Das Raffinement des städtischen Geschmacks, Maximen des Hoflebens, Prachtliebe, Epikuräermoral — das ist es, was sie predigen und lehren. Das Gleißen ihrer geschminkten Tugenden verdunkelt den Glanz der wahren, die Schicklichkeiten der guten
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