Julie oder Die neue Heloise
sagte er, als wir eintraten: Es ist kein Fremdenzimmer, es wird keinen Änderen mehr beherbergen, und künftig leer stehen, wenn Sie es nicht inne haben. Sie können denken, ob mir dieses Compliment angenehm war; aber ich verdiente es noch nicht genug, um es ohne Verwirrung anzuhören. Herr von Wolmar ersparte mir die Verlegenheit einer Antwort. Er lud mich ein, einen Gang durch den Garten mit ihm zu machen. Dort wußte er es so anzustellen, daß mir bald leichter wurde: er sprach in dem Tone eines Mannes, der von meinen alten Verirrungen unterrichtet, aber voll Vertrauen auf meine Rechtschaffenheit ist, sprach wie ein Vater zu seinem Kinde, und machte es mir durchdie Hochschätzung selbst, die er mir bezeigte, unmöglich, sie zu Schanden zu machen. Nein, Milord, er hat sich nicht getäuscht; ich werde nicht vergessen, daß ich die seinige und die Ihrige zu rechtfertigen habe. Warum auch muß sich mein Herz bei seinen Wohlthaten zusammenziehen? Warum muß ein Mann, den ich zu lieben gezwungen bin, Juliens Mann sein?
Dieser Tag schien ausersehen, mich jeder möglichen Prüfung zu unterwerfen. Als wir wieder zu Frau von Wolmar gekommen waren, wurde ihr Mann abgerufen, und ich blieb mit ihr allein.
Ich befand mich nun in einer neuen Verlegenheit; es war die peinlichste und unvorhergesehenste von allen. Was ihr sagen? Womit anfangen? Sollte ich es wagen, sie an unsere alte Verbindung zu erinnern, an die Zeiten, die meinem Gedächtnis; so gegenwärtig sind? Sollte ich die Meinung erregen, daß ich diese Zeiten vergessen hätte oder mir nichts mehr daraus machte? Welche Folter, Die wie eine Fremde zu behandeln, die man tief in's Herz geschlossen trägt! Wie schändlich, die Gastfreundschaft zu mißbrauchen, um ihr Dinge zu sagen, die sie nicht mehr hören darf! In dieser peinlichen Lage verlor ich alle Fassung; die Glut stieg mir in's Gesicht, ich wagte weder zu sprechen, noch die Augen aufzuschlagen, noch ein Glied zu rühren, und ich glaube, daß ich in diesem gequälten Zustande bis zur Rückkunft ihres Mannes geblieben sein würde, wenn sie mich nicht daraus befreit hätte. Sie selbst schien es in keiner Weise befangen zu machen, daß wir uns mit einander allein befanden. Sie änderte ihre Haltung, ihr Benehmen nicht, sie sprach in dem vorigen Tone fort; nur glaubte ich zu bemerken, daß sie versuchte, noch mehr Heiterkeit und Ungezwungenheit hinein zu legen, und dabei einen Blick anzunehmen, nicht schüchtern noch zärtlich, aber sanft und liebevoll, wie wenn sie mir Muth machen wollte, mich zu fassen und einen Zwang abzulegen, der ihr nicht hatte entgehen können.
Sie fing von meinen langen Reisen an: sie wollte das Nähere wissen, besonders in Betreff der Gefahren, die ich zu bestehen gehabt, der Leiden, die ich erduldet hatte; denn sie wüßte wohl, sagte sie, daß ihre Freundschaft sie mir zu vergüten hätte. Ach, Julie! sagte ich betrübt, erst einen Augenblick bin ich bei Ihnen, wollen Sie mich schon wieder nach Indien schicken? Keineswegs, versetzte sie lachend, ich vielmehr will ja jetzt hin.
Ich sagte ihr, daß ich für Sie einen Bericht über meine Reise aufgesetzt und ihr eine Abschrift davon mitgebracht hätte. Sogleich erkundigte sie sich angelegentlich nach Ihnen. Ich erzählte ihr von Ihnen, und das konnte ich nicht, ohne ihr den Kummer zu schildern, den ich gelitten und den ich Ihnen verursacht hatte. Sie war gerührt davon. Sie nahm einen ernsteren Ton an, indem sie auf ihre eigene Rechttfertigung einging, und mir zeigte, daß sie durchaus so hatte handeln müssen, wie sie gehandelt hatte. Herr von Wolmar trat ein, während sie noch mitten in ihrer Auseinandersetzung war. und es machte mich verwirrt, daß sie in seiner Gegenwart ganz so fortfuhr, als wäre er nicht dagewesen. Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er mir mein Erstaunen ansah. Als sie fertig war, sagte er zu mir: Sie haben da ein Beispiel von der Offenheit, welche hier bei uns herrscht. Wenn Sie aufrichtig tugendhaft sein wollen, so gewöhnen Sie sich auch daran; es ist das meine einzige Bitte, und die einzige Lehre, die ich Ihnen zu geben habe. Es ist immer der erste Schritt zum Laster, wenn man bei unschuldigen Handlungen die Heimlichkeit sucht; wer es liebt, sich zu verstecken, wird früher oder später nöthig haben, es zu thun. Eine einzige Moralvorschrift kann statt aller dienen, nämlich diese: Thue nie und sage nie Etwas, was du nicht die ganze Welt könntest sehen und hören lassen. Ich für mein Theil habe
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