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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Augenblick der Begeisterung und des Entzückens. Der Anblick meines Vaterlandes, dieses heißgeliebten Landes, wo Wonne in Strömen mein Herz überflutet hatte, die Alpenluft, so gesund und rein, die süße Luft des heimischen Landes, süßer als die Wohlgerüche des Orients, dieser reiche fruchtbare Boden, diese einzige Landschaft, die schönste, die je ein menschliches Auge gesehen hat, diese herrliche Gegend, die ich auf der Welt, die ich umreiste, nicht ähnlich gefunden habe, der Anblick eines glücklichen und freien Volkes, die Lieblichkeit der Jahreszeit, die Heiterkeit des Himmelstriches, tausend köstliche Erinnerungen, die alle Gefühle wieder erweckten, welche ich je genossen hatte, das Alles versetzte mich in ein Entzücken, welches ich nicht beschreiben kann, und schien mir den Genuß meines ganzen Lebens in Einen Punkt zu sammeln.
    Als ich abwärts stieg gegen das Ufer hin, empfand ich einen neuen Eindruck, von dem ich noch keine Vorstellung gehabt hatte, eine seltsame Bangigkeit, die mir das Herz zusammenzog, und mich wider Willen ängstigte. Diese Bangigkeit, deren Ursache ich mir nicht klar machen konnte, wuchs, je näher ich der Stadt kam; sie hemmte meinen Eifer die Stadt zu erreichen, und nahm endlich so zu, daß ich mich jetzt eben so sehr über die Geschwindigkeit der Fahrt beunruhigte, als zuvor über die Langsamkeit derselben. Als ich in Vevay ankam, war die Empfindung, die ich hatte, nichts weniger als angenehm; ich wurde von einem heftigen Herzklopfen befallen, welches mir den Athem benahm; ich sprach mit unsicherer, zitternder Stimme. Ich hatte Mühe mich verständlich zu machen, als ich nach Herrn von Wolmar fragte; denn seine Frau zu nennen, getraute ich mir gar nicht. Er wohne, sagte man mir, in Clarens. Diese Nachricht nahm mir ein Gewicht von fünfhundert Pfunden von der Brust, und indem ich die zwei Lieues, die ich nun noch zu machen hatte, für eine Frist nahm, freute ich mich über eine Sache, die mich zu einer andern Zeit in Verzweiflung gebracht hätte. Mit wahrem Kummer aber erfuhr ich, daß Frau v. Orbe in Lausanne wäre. Ich ging in ein Wirthshaus, um wieder Kräfte zu sammeln; es war mir unmöglich, einen einzigen Bissen herunter zu bringen, das Getränk erstickte mich, und ich mußte mehrmals ansetzen, um ein Glas zu leeren. Mein Angstgefühl verdoppelte sich, als ich die Pferde wieder vorlegen sah. Ich glaube, ich würde Alles in der Welt darum gegeben haben, wenn ein Rad unterwegs gebrochen wäre. Ich sah nicht mehr Julie; meine verstörte Einbildungskraft zeigte mir nur verworrene Gegenstände; meine Seele war ganz und gar in Aufruhr. Ich kannte Schmerz und Verzweiflung; diesem schauderhaften Zustande würde ich sie vorgezogen haben. Genug, ich kann sagen, daß ich nie in meinem Leben in einer schrecklicheren Aufregung gewesen bin, als auf diesem kurzen Wege, und ich bin überzeugt, daß ich sie einen ganzen Tag lang nicht würde ausgehalten haben.
    Als ich anlangte, ließ ich am Gitter halten, und da ich mich außer Stande fühlte, einen Schritt zu thun, schickte ich den Postillon hinein, um zu sagen, daß ein Fremder Herrn v. Wolmar zu sprechen wünsche. Er war auf dem Spaziergange mit seiner Frau. Die Meldung wurde ihnen gemacht, und sie kamen von einer andern Seite, während ich, die Augen auf die Allee geheftet, wartete und in Todesangst war, Jemanden kommen zu sehen.
    Julie erblickte mich kaum, als sie mich erkannte. Mich sehen, aufschreien, laufen, sich in meine Arme werfen, war die Sache eines Augenblicks. Bei dem Tone ihrer Stimme bebe ich zusammen; ich wende mich um, ich sehe sie, ich fühle sie. O Milord, o mein Freund .... ich kann nicht reden fort Zittern, fort Angst, Bangigkeit, Menschenfurcht. Ihr Blick, ihr Schrei, ihre Geberde geben mir in einem Augenblick Vertrauen, Muth und Kräfte wieder. In ihren Armen gewinne ich Wärme und Leben, und bebe vor Freude, sie mit den meinigen umschließend. Ein heiliger Schauer hält uns lange in schweigender, enger Umarmung, und erst nach dieser süßen Regung fangen unsere Stimmen an, sich zu verschmelzen, und unsere Augen ihre Thränen zu vermischen. Herr v. Wolmar war da; ich wußte es, ich sah es. Aber was hätte ich zu sehen vermocht? Nein, wenn die ganze Welt sich gegen mich vereinigt hätte, wenn Marterwerkzeuge mich umdroht hätten, ich hätte mein Herz nicht der kleinsten dieser Liebkosungen entwunden, den zärtlichen Erstlingsfrüchten einer reinen heiligen Freundschaft, die wir mit in den Himmel nehmen

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