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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Doktor. In zwei Minuten können wir wieder beginnen.«
    »Gut. Fixieren Sie den Patienten.«
    »Fixieren? Aber der Junge liegt ja sowieso im Koma   … «
    »Fixieren Sie ihn. Wir haben es mit
morbus sacer
zu tun.«
    »In Ordnung, Herr Doktor.«
    Als Brogli hinausgeschwebt war, flüsterte Andreas: »Was für ein
morbus

    »Fallsucht.« Er grinste. »Epilepsie. Solltest du wissen. Erstes Semester!«
    »Koma ist Koma, oder? – Was meinst du mit
Bregen-Brei

    »Wir haben den Jungen von allen Seiten durchleuchtet. Schau dir die Bilder an! Der hat nichts mehr da oben. All die hellen Flächen – das ist nur noch Matsch in der Birne.«
    Andreas betrachtete die Aufnahmen. »Matsch? Kann das Helle nicht etwas anderes sein?«
     
     
    Urs zuckte mit den Schultern.
    Andreas legte dem Jungen flach die Hand auf die nackte Schulter, atmete tief ein und versuchte, lautlos auszuatmen. Es sollte nicht wie ein Seufzen klingen.
     
    Er vertraute auf sein Gehirn.
    Professor Eugen Lascheter saß auf dem Dach des Punkthochhauses. Die drei Wohnungen der obersten Etage hatte er zu einem einzigen Apartment zusammenlegen lassen.
    Blick auf Berlin in alle Himmelrichtungen. Alle Wände entfernt und durch Säulen ersetzt. Eine Wendeltreppe zum Dach – wo Lascheter nichts brauchte außer einem Liegestuhl.
    Keine Musik, keine Getränke, keine Zeitschrift, kein Buch. Er vertraute ganz auf das Unterhaltungspotenzial seines Gehirns.
    Eugen Lascheters Gehirn schöpfte aus den Archiven seines Langzeitgedächtnisses, einem Speicher mit Erlebnissen aus fünf Lebensjahrzehnten.
    Gesichter, Bewegungen, Melodien kamen zu Tage, aber auch Stimmungen und Gerüche. Manche dachte er gezielt herbei. Andere wurden durch Assoziationen an die Oberfläche befördert und überraschten ihn. Er liebte die Überraschungen, die sein Gehirn ihm offerierte, dieses Organ, das zwischen Geburt und Tod niemals abschaltete.
    Lascheter wartete darauf, was sein Gehirn mit den aufgespülten Erinnerungen machte. Es schlug vor zu vergessen, es wertete, es fällte Urteile. Es dachte in Ursachen und Konsequenzen, es verglich Vergleichbares und Unvergleichbares. Die zwei, drei, vier Millimeter dicke Großhirnrinde war der
dernier cri
der Evolution. Um das Vierfache größer alsdas eines Schimpansen. Die Zentrale der Strategie, der Feuerofen der Phantasie. Lascheter hatte nichts gegen wissenschaftliche Experimente mit Drogen. Aber die Vorstellung, seinen Ideen mehr Farbe zu geben durch Drogen, hielt er für abwegig. Wozu Ersatzemotionen, wenn es die echten Brainstorms gab?
    Alles, was du tun musst, ist, deinem Gehirn zuzuhören und das Feuerwerk zuzulassen. Ab und zu kannst du etwas steuern, wie ein Dirigent. Du kannst eingreifen, wie ein Regisseur. Aber notwendig ist das nicht. Angeregt, gesteuert wird ohnehin von allen Seiten. Von Außenreizen:
    Wolkenformationen über Berlin-Marzahn.
    Die Fliege auf dem Arm.
    Sonne.
    Wärme.
    Mehr als Konzentration brauchte und wollte er nicht. Sein einziges Zugeständnis an mediale Verführbarkeit auf dem Dach war ein Blackberry in Reichweite. Das Gerät gab ein dezentes Knacken von sich.
     
    Dr.   Carlo Brogli
    Universitätsspital Zürich
    Sehr geehrter Herr Professor, geschätzter Kollege,
    Ihr Patient, der 16   Jahre alte Jan Sikorski, hat an einer Bergwanderung
mit anderen Jugendlichen in Graubünden teilgenommen
und ist schwer gestürzt. Ursache war offenbar ein
epileptoformer Anfall Sikorskis. Nach der Sanität wurde dem
Verunfallten im Spital Oberengadin in Samedan Levetiracetam
verabreicht, damit es nicht zu weiteren Konvulsionen
kommt, bei denen er sich zusätzlich verletzt. Zur Behandlung
wurde er anschließend maximal sediert.
    Nach Erstbehandlung eines Milzrisses und weiterer Innerblutungen
wurde er heute zu uns verlegt. Ich diagnostiziere
multiple Frakturen, die komplikationslos heilen dürften,
ebenso wie die organischen Verletzungen. Im Normalfall
hielte ich die weitere Analgo-Sedierung für unabdingbar und
würde ihn erst in vier bis sechs Tagen wecken. Allerdings handelt
es sich nicht um einen Normalfall, wie ich dem
ILA E-Epilepsie -Pass
Ihres Patienten entnehme.
    Demnach leidet er an einer Sedativa- und Antiepileptika-Unverträglichkeit. Ich bitte daher um Ihre Einschätzung innerst
nützlicher Frist, wie dieses Dilemma zu lösen ist, denn
offenbar sind für ihn sowohl der Wachzustand als auch das
»künstliche Koma« lebensbedrohend.
    Ein weiterer Umstand alarmiert mich: Das Gehirn des Pat.
weist Anomalien auf, die

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