Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
Köstlich, strahlte die deutsche Witwe des italienischen Verlegers, die Gastgeberin meinte, das Leben schreibe die unwahrscheinlichsten Geschichten, die Tochter sah mich an, kalt und aufmerksam, als wolle sie erforschen, ob ich die Geschichte glaube. Der Greis rauchte seine Zigarre und brachte das Kunststück zustande, das mir nie gelungen war, den Rauch in Ringen auszustoßen. Er verstehe, meinte er, ein zu Unrecht Beschuldigter sei nicht genierlich wie ein Mörder, daher der herzliche Beifall, es sei sein Schicksal, daß ihm niemand seinen 149
    Mord glauben wolle. Auch ich wohl nicht, und damit wandte er sich an mich, der ich in meinen Komödien meine Helden gleich haufenweise ins Jenseits schicke. Erneutes Gelächter, es ging hoch her, schwarzer Kaffee wurde serviert, Cognac. Was bleibe, sei die Frage nach der Moral, begann der Greis aufs neue, sich auf die Asche seiner Zigarre konzentrierend, die er nicht abstreifte, sondern sorgsam anwachsen ließ. Plötzlich war er ein anderer. Nicht mehr hundertjährig, sondern zeitlos. Ob er nun getötet habe oder nur töten wollte, sagte er, moralisch zähle die Absicht, nicht die Ausführung.
    Doch die Frage der Moral sei eine Frage der Rechtfertigung einer Handlung, die nicht den allgemeinen Grundsätzen einer Gesellschaft entspräche, nach denen diese sich angeblich richte. Nun falle die Rechtfertigung in die Kategorie des Dialektischen. Dialektisch lasse sich alles rechtfertigen, somit auch moralisch. Darum halte er jede Rechtfertigung für stillos, überspitzt gesagt, jede Moral für unmoralisch, er könne nur ins Feld führen, er habe im Interesse eines Konzerns gehandelt, der übrigens trotzdem pleite gegangen sei, so daß auch sein schöner Mord nutzlos gewesen sei, ob er ihn nun begangen habe oder ob er von einem anderen verübt worden sei, worauf er die Frage, was politisch zu erreichen sei, dahin beantworten könne: Wenn etwas, nur durch Zufall, und, wenn etwas zufällig erreicht worden sei, stelle es das Gegenteil dessen dar, was man habe erreichen wollen. Dann entschuldigte er sich. Die verehrte Gastgeberin möge so gütig sein, ihn zu entlassen, und seine Tochter Hélène ihn in die ›Vier Jahreszeiten‹ führen. Sie rollte ihn hinaus, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich hielt seine Geschichte für erfunden. Wer mordet schon so. Aber daß der Greis einmal mächtig gewesen war und noch beträchtlichen Einfluß hatte, war nicht zu übersehen, wozu hätte ihn sonst Strauß empfangen. Ich hielt ihn für einen Wirtschaftsführer, der seine Leichen im Keller hatte, doch Börsenmanöver sind komplizierter zu erzählen als Morde, und so plauderte er denn über einen erfundenen Mord, von dem er sicher sein konnte, daß man ihm diesen im Gegensatz zu seinen Spekulationen nicht zutraute. Schon im Taxi vergaß ich seine Geschichte, dachte nur noch der Dialektik nach, die er der Moral zugeordnet hatte, und erinnerte mich plötzlich an seinen Namen: 150
    Kohler, Isaak Kohler. Ich hatte einmal bei einem Bankett der Freunde des Schauspielhauses ihm gegenübergesessen. Neben seiner Tochter. Irgendwann. Vor vielen Jahren. Was gefeiert wurde, weiß ich nicht mehr. Endlose Reden. Kohler sah damals vital und braungebrannt aus, seine Tochter berichtete, er sei eben von einer Weltreise zurückgekommen.
    Im Sommer darauf, vielleicht schon anfangs September. Der Vater einer Bekannten war gestorben, einer Stüssi-Moosi. Sie war vor etwa fünfzehn Jahren unsere Hausangestellte gewesen. Sie meldete mir, der Hof ihres Vaters sei zu verkaufen. Ich kannte den Hof. Er war alt und halb zerfallen. Ich war entschlossen, ihn zu kaufen. Die Aussicht beeindruckend. Unten das Stüssital mit Stüssikofen, dann Flötigen, die Hochalpen. Hinter dem Hof steil abfallend eine Fluh. Das Dorf ein Nest, noch nicht in den eigentlichen Alpen gelegen. Alte Häuser.
    Eine Kapelle. Hin und wieder predigt der Pfarrer von Flötigen. Ein Gasthof. Erstaunlich, daß es noch Dörfer ohne Fremdenverkehr gibt.
    Zu verhandeln hatte ich mit dem »Fürsprecher«, wie man dort einen Rechtsanwalt nennt. Er bewohnte ein Zimmer im Gasthof ›Zum Leuenberger‹, wickelte seine Geschäfte in der Gaststube ab.
    Zwischen Bauern als Zuhörer. Er schien mehr eine Art Dorfrichter zu sein, schlichtete, als ich ankam, eine Schlägerei. Ein Bauer mit verbundenem Kopf zog fluchend davon. Der Fürsprecher ist nachträglich schwer zu beschreiben. Etwa gegen Fünfzig. Er konnte auch wesentlich jünger sein. Schwerer Alkoholiker.

Weitere Kostenlose Bücher