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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Liederliche wahr. Ungeniertheit macht sich breit. Die Räume sind hier hoch und hell, ähneln nun mehr jenen eines billigen Wirtschaftssaales, gewöhnliche Holzstühle, auf den Tischen karierte Decken, überall Bierteller, gleich neben der Treppe ein halbleeres Kabarett mit mittelmäßigen Zauberkünstlern und noch mittelmäßigerem Striptease, im Saal wird Karten und Billard gespielt. Da sitzen die Gemüse- und Früchtehändler unserer Stadt, die Bauunternehmer und Warenhausbesitzer, die Großgaragisten und Abbruchspezialisten, oft stundenlang, die Einsätze sind phantastisch, und um sie herum scharen sich die Kiebitze, ausgefallene und zwielichtige Zeitgenossen, aber auch einige Dirnen warten, drei, vier, immer am gleichen Tisch beim Fenster, mehr als nur geduldet, sie gehören zur Ausstattung und sind wohlfeil. Relativ. Wirklich reiche Leute achten auf ihr Kleingeld.
    Als ich dem Kantonsrat zum ersten Mal begegnete, hatte ich eben das Staatsexamen abgeschlossen, die Dissertation geschrieben, den Doktortitel und das Anwaltspatent erhalten, aber arbeitete noch, wie schon während meines Studiums, als besserer Laufbursche bei Stüssi-Leupin. Dieser war durch die Freisprüche, die er in den Mordfällen der Gebrüder Ätti, Rosa Pick, Deubelbeiß und Amsler erreicht, und durch den Vergleich, den er zwischen der Hilfswerkstätte Trog und den Vereinigten Staaten erzielt hatte (sehr zum Vorteil der Trögener), weit über die Grenzen unseres Landes bekannt geworden. Ich hatte Stüssi-Leupin ein Gutachten über einen jener dubiosen Fälle ins ›Du Théâtre‹ zu bringen, wie nur er sie liebte. Ich fand den Staranwalt im zweiten Stock bei einem der Billardtische, wo er mit dem Kantonsrat eine Partie beendet hatte, am anderen Tisch spielten Dr. Benno und Professor Winter, und erst jetzt, beim Niederschreiben, wird mir bewußt, daß damals die Hauptpersonen der späteren Handlung versammelt waren: wie bei einem Vorspiel. Draußen war es kalt gewesen, November oder Dezember – das genaue Datum ließe sich leicht feststellen—, ich war durchfroren, weil ich aus Gewohnheit keinen Mantel trug und meinen Volkswagen einige Straßen vom ›Du Théâtre‹ entfernt hatte 7
    parkieren müssen.
    »Leisten Sie sich einen Grog, junger Mann«, sprach mich der Kantonsrat an. Er musterte mich aufmerksam und winkte einem Kellner. Ich gehorchte unwillkürlich, auch hatte ich auf eine Anordnung Stüssi-Leupins zu warten, der sich mit dem Gutachten zurückgezogen hatte und es an einem der Tische durchblätterte.
    Vorne im Saal spielten die Gemüsehändler, dunkle Silhouetten vor der Fensterfront. Von der Straße her drang das dumpfe Rollen der Straßenbahn. Der Kantonsrat betrachtete mich noch immer, ungeniert, ohne seinen Blick zu verbergen. Er mochte gegen die Siebzig gehen. Er hatte als einziger den Rock nicht ausgezogen, schwitzte nicht einmal. Ich stellte mich endlich vor, ahnte, einem Mann von Prominenz gegenüberzustehen, kam aber nicht auf den Namen.
    »Verwandt mit Oberst Spät?« fragte er, ohne seinen Namen zu nennen, sei es nun, daß er darauf keinen Wert legte, oder in der Annahme, daß ich ihn schon kenne. (Oberst Spät: martialischer Landwirt, heute Bundesrat. Fordert Atomwaffen.)
    »Kaum«, antwortete ich. (Um diesen Punkt ein für allemal zu erledigen: Ich bin 1930 geboren. Meine Mutter, Anna Spät, habe ich nicht gekannt, mein Vater ist unbekannt. Aufgewachsen bin ich in einem Waisenhaus, an das ich mich mit Vergnügen erinnere –
    besonders an den unermeßlichen Wald, an den es grenzte. Die Leitung und die Lehrerschaft waren vorzüglich, meine Jugend glücklich, ist es doch durchaus nicht immer ein Vorteil, Eltern zu besitzen. Mein Unglück begann mit Dr. h.c. Isaak Kohler, vorher war ich zwar in Schwierigkeiten, aber nicht in hoffnungslosen.)
    »Sie wollen Stüssi-Leupins Partner werden?« fragte er.
    Ich schaute ihn verwundert an: »Ich denke nicht daran.«
    »Er hält viel von Ihnen.«
    »Das hat er mich bis jetzt nie merken lassen.«
    »Stüssi-Leupin läßt nie etwas merken«, meinte der Alte trocken.
    »Sein Fehler«, antwortete ich unbekümmert. »Ich will mich selbständig machen.«
    »Das wird schwer sein.«
    »Möglich.«
    8
    Der Alte lachte: »Sie werden noch Ihre Wunder erleben. Es ist nicht leicht, in unserem Lande allein hochzukommen. – Spielen Sie Billard?« fragte er dann unvermittelt.
    Ich verneinte.
    »Ein Fehler«, sagte er, betrachtete mich aufs neue nachdenklich, die grauen Augen voll Verwunderung,

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