K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
durchgefahren, ohne auf den Namen zu achten. Hunderte von Menschen kommen hier Tag für Tag vorbei, Jugendliche, Kinder, und sie lesen diesen Namen auf dem Schild und denken womöglich, das war ein Held. Bestimmt denken sie das. Nun verstand er, wieso man die Straßenschilder mit den Namen der verschwundenen politischen Gegner für dieses abgelegene Gegend vorgesehen hatte.
Überlebende – eine Reflexion
Obwohl jede Lebensgeschichte einzigartig ist, leidet ein Überlebender bis zu einem gewissen Grad an dem Übel der Melancholie. Deshalb spricht er gegenüber seinen Kindern und Enkeln nicht von den erlittenen Verlusten; er möchte vermeiden, dass sie von diesem Übel heimgesucht werden, noch bevor sie sich ein Leben aufgebaut haben. Auch seinen Freunden gegenüber erwähnt er nicht gern diese Verluste, und wenn sie ihn daran erinnern, empfindet er Unbehagen. K. hat seinen Kindern nie von den zwei Schwestern erzählt, die er in Polen verloren hat, genau wie seine Frau es vermied, den Sprösslingen von dem Verlust ihrer gesamten Familie durch den Holocaust zu erzählen.
Der Überlebende lebt eine Zeitlang ausschließlich in der Gegenwart. Nachdem sein Erstaunen über die Tatsache, überlebt zu haben, abgeklungen ist, die Aufgabe, wieder ein normales Leben zu führen, bewältigt ist, schlagen die Dämonen der Vergangenheit erneut mit unerhörter Wucht zu. Warum habe ich überlebt und sie nicht? Diese späten Störungen, die Jahrzehnte nach den Geschehnissen bei den Überlebenden auftreten, sind ein bekanntes Phänomen.
In dem Film »Sophies Entscheidung« wird eine Polin von einem KZ-Aufseher gezwungen zu entscheiden, welches von ihren beiden Kindern überleben soll: der Junge oder das Mädchen? Falls sie Jüdin sei, habe sie kein Recht auf diese Entscheidung, beide Kinder würden dann im Krematorium landen; da sie Polin ist, erfindet der Aufseher ein neues Spiel: Die Mutter soll die Entscheidung treffen, wenn sie nicht möchte, dass beide Kinder sterben. »Sophies Entscheidung« ist zum Symbol für eine unmögliche Entscheidung geworden, bei der alle Optionen gleichermaßen schmerzlich sind.
Doch die Frage ist, weshalb der deutsche Soldat beschlossen hat, der Mutter die Folter dieser Entscheidung aufzuerlegen, zumal es doch viel einfacher gewesen wäre, die beiden Kinder und die Mutter sofort umzubringen oder selbst zu entscheiden, welches Kind getötet und welches verschont werden sollte. Sadismus? Vielleicht. Aber ein funktionstüchtiger Sadismus, denn der Verbrecher hat durch diesen Mechanismus die Schuld für den Tod des Kindes der Mutter zugewiesen. Sie war es doch, die die Wahl getroffen hat! Dieses Schuldgefühl nimmt im Verlauf der Jahre die Seele der Mutter immer stärker ein, sodass sie als ältere Frau, die inzwischen in Amerika lebt, Selbstmord begeht, da sie den Druck dieser Schuld, die nie die ihre war, nicht mehr aushält.
Die Schuld. Immer die Schuld. Die Schuld, in einem bestimmten Blick nicht die Angst wahrgenommen zu haben. So und nicht anders gehandelt zu haben. Nicht mehr getan zu haben. Allein die wenigen Gegenstände des elterlichen Nachlasses geerbt zu haben, die Bücher behalten zu haben, die anderen gehörten. Die miserable Entschädigung der Regierung bekommen zu haben, auch ohne sie beantragt zu haben. Im Grunde die Schuld, überlebt zu haben.
Milan Kundera sagt, Kafka habe sich nicht an den totalitären Systemen inspiriert – obwohl das die gängige Interpretation ist –, sondern an seiner Erfahrung in der Familie, der Angst vor dem vernichtenden Urteil seines Vaters. In Der Prozess analysiert Josef K. seine Vergangenheit bis ins letzte Detail auf der Suche nach dem verborgenen Fehler, der dazu geführt hat, dass er angeklagt wird. In der Erzählung Das Urteil verurteilt der Vater den Sohn zum »Tode des Ertrinkens«. Der Sohn nimmt die fiktive Schuld auf sich, stürzt zum Fluss und lässt sich so widerstandslos hineinfallen wie sich später Josef K. exekutieren lässt in dem Glauben, dass er in der Tat schuldig ist, denn als Schuldiger ist er vom System angeklagt. Wie Sophie, die sich am Ende selber richtet.
Auch die Überlebenden in diesem Land stochern immer in der Vergangenheit herum auf der Suche nach jenem Moment, in dem sie die Tragödie hätten vermeiden können und aus irgendeinem Grund versagt haben. Milan Kundera nennt das Zusammenspiel dieser Mechanismen der Schuldzuweisung, die Kafka beschrieben hat, »familiären Totalitarismus«. Wir könnten von einem
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