K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
von allen, herauszufinden, was seinen Kollegen und akademischen Rivalen durch den Kopf geht. Gottlieb ist Jude und hat die Tschechoslowakei verlassen, als sie von den Deutschen besetzt wurde. In Brasilien hat er verschiedene Labors zur Erforschung von Naturprodukten aufgebaut. Möglicherweise denkt er Folgendes:
Ich weiß, dass die Rechtsabteilung dem Institutsleiter das Messer auf die Brust gesetzt hat: bis zum Ende der Woche muss die Sache mit der Entlassung der Dozentin über die Bühne sein. Mir war dieses Mädchen durchaus sympathisch. Sie hat hart gearbeitet. Und war weitaus gebildeter als die anderen. Eines Tages bin ich ihr begegnet, als sie Der Zauberberg las. Ihr Gesichtsausdruck, stets etwas leidend, erinnerte mich immer an meine Cousine Esther, die sich nie an das Exil gewöhnen konnte. Dieser Giesbrecht ist ein Widerling, er hat einen schlechten Charakter, und ausgerechnet der hat bei Heinrich studiert, er hätte, als der Anruf kam, einfach den Hörer aufknallen sollen; wo gibt’s denn so etwas, anstatt die Rechtsabteilung einzuschalten, das Prestige der Universität auf die Waagschale zu werfen, um die Behörden zu zwingen, Informationen preiszugeben und offenzulegen, was ihr zur Last gelegt wird, tun sie das Gegenteil, sie entlassen sie, als hätte sie ihre Pflicht vernachlässigt und nicht, als habe man sie entführt. Mit anderen Worten: sie tragen dazu bei, die Entführung zu vertuschen. Schämen muss man sich. Das Problem ist, dass er eben der Chef ist und es sehr schwer ist, ihm Paroli zu bieten … diesem Schwein.
Der Vertreter der Juniorprofessoren, Gilberto Rubens Biancalana, ist zu spät zu der Sitzung erschienen und würde gern etwas sagen. Er bittet jedoch nicht um das Wort, vielleicht aus Angst. Vielleicht geht ihm folgendes durch den Kopf:
Unter den Kollegen ist Panik ausgebrochen, als ich vorschlug, ein Treffen zu organisieren, damit wir unsere Position diskutieren. Jetzt muss ich allein entscheiden, wie ich abstimme. Ich werde nicht meine gesamte Karriere aufs Spiel setzen wegen einer Dozentin, die ich nicht einmal gut kenne und die sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hat. Wenn Giesbrecht und Gottlieb etwas anderes vorschlagen, eine Vertagung, eine andere Lösung, dann ziehe ich mit, aber so allein … Oder dieser Newton Bernardes, der von der Physik kommt. Er hat bereits seine Habilitation abgeschlossen, bekleidet stets wichtige Ä mter… Er hat einen Namen, genießt Prestige.
Miriam, Vertreterin der pädagogischen Hilfskräfte, sagt nichts. Sie hält große Stücke auf die Dozentin, eine der engagiertesten und arbeitsfreudigsten, aber sie hat Angst:
Sehr traurig, was da passiert ist. Schrecklich. Ich verstehe nicht, wieso diese Großmäuler die ganze Zeit über geschwiegen haben. Das war der Fehler. Wenn sie gleich nach ihrem Verschwinden den Mund aufgemacht hätten, hätte es vielleicht andersherum laufen können, das Institut wäre an das Rektorat herangetreten und hätte verlangt, dass sie diese Verbrecher des DOI-CODI, die sich dort installiert haben, rauswerfen, und es wäre nicht dazu gekommen, dass die Rechtsabteilung Druck auf den Fachbereich ausübt. Dieses ganze Gesülze über das Verfahren, über die zusammengetragenen Beweise, die Mitteilung von Minister Falc ã o, die sie für bare Münze halten. Und ich sitze hier ohne Rückendeckung, bin gezwungen, bei diesem Affentheater mitzumachen. Ich hätte fehlen sollen, eine Entschuldigung erfinden und einfach nicht erscheinen. Warum stehen nicht alle auf und sagen nein? Das ist Vorsatz, die Frau wird entführt und dann auch noch angeklagt, nicht zum Dienst zu kommen.
Prof. Luiz Roberto Pitombo schweigt. Vielleicht aufgrund kühler Überlegungen wie dieser:
Ich weiß nicht, in was dieses Mädchen verwickelt war. Sie hat sich mir gegenüber nie geöffnet, und ich habe es vermieden, jemals nachzufragen. Ich vermute, es geht um etwas Schwerwiegendes, unnützer linker Aktionismus, nicht die Spur von Strategie. Trotzdem müssen wir uns natürlich solidarisch verhalten und das Repressionssystem anprangern. Das Problem ist die Situation, in der sich dieses Gremium und dieses Institut befinden. Es macht keinen Sinn, sich wegen eines Einzelfalls die Finger zu verbrennen. Unser Kampf ist weiter gefasst, er ist von strategischer Bedeutung. Es war ein Fehler und ist bedauerlich. Doch bedenkt man das gegenwärtige Kräfteverhältnis, kann eine einzelne Stimme gar nichts ausrichten und außerdem wird sie unserer Sache schaden.
Prof.
Weitere Kostenlose Bücher