K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Gewohnheiten und Tagesabläufe der Unternehmer, die die Folterzentren unterstützten. Sie wissen nicht, dass abgesehen von dem bereits Hingerichteten diese alle eines natürlichen Todes sterben werden, umgeben von ihren Kindern, Enkeln und Freunden, geehrt durch ihre Namen auf den Straßenschildern.
Und die zwei aus einem akademischen Zentrum entwendeten Thermokopierer? Die müssen sie zurücklassen. Sowie die Bücher, die unzähligen Bücher über Geschichte, marxistische Theorie und Wirtschaft, das Handbuch der Stadtguerilla von Marighella, das Buch von Régis Debray, die Lehrbücher von Marta Harnecker und die erstaunlichen Werke von Nietzsche, der die unabdingbare Willenskraft des Einzelnen gegen die herrschende Moral stellte.
Dort draußen geht das Leben weiter wie immer: das Bruttoinlandsprodukt steigt; die Frauen machen ihre Einkäufe; die Kinder spielen; die Bettler bitten um Almosen; die Verliebten küssen sich. Das Ehepaar kann einen Überlebensversuch starten, um den Kampf später, unter anderen Bedingungen, in einem anderen Zusammenhang, wieder aufzunehmen. Doch es kommt anders. Die letzte Maßnahme der beiden ist das Verbergen der kleinen Zyankalikapsel in einer Zahnlücke. Vor Zeiten haben sie den Schwur abgelegt, sich nicht lebend fassen zu lassen, damit sie unter der Folter nicht die Namen der Companheiros preisgeben. Die Zyankalikapseln kommen im Verhaltenskodex nicht vor.
Die Informanten
Außer der Welt, die man sieht und die uns besänftigt mit ihren Grußformeln, guten Morgen, guten Tag, mit ihren Floskeln, wie geht’s, alles in Ordnung?, gibt es eine andere, die nicht zu sehen ist, eine Welt der Obszönitäten und Widerwärtigkeiten. Der Nährboden für die Informanten. Wäre seine Tochter nicht entführt worden, hätte K. niemals diese andere Welt, die sich so dicht in seiner Nähe befand, wahrgenommen. Dennoch waren sie immer da gewesen, die im Verborgenen agierenden Informanten der Polizei. An erster Stelle der höfliche Caio mit dem blassen Teint und den feminin anmutenden Bewegungen, der seit Jahren immer die Ladenfenster dekorierte, sich leichtfüßig zwischen den Schaufensterpuppen hin und her bewegte, in den zusammengepressten Lippen die Stecknadeln, das sichtbare Handwerkszeug seines Metiers.
Sobald er erschien, um mit der Winterdekoration zu beginnen, sprach K. ihn an. Meine Tochter ist seit fünf Wochen verschwunden, sagt er. Seit fünf Wochen, wiederholt er, ohne dem »Wie geht’s, alles in Ordnung?« Beachtung zu schenken. Er nimmt ihn mit in sein Refugium in den hinteren Räumen des Ladens. Zum Sitzen aufgefordert, lässt der Dekorateur den dramatischen Monolog des Alten über sich ergehen, der ständig vor ihm herumfuchtelt. Am Ende sagt Caio in mitleidigem Ton, es tut mir sehr leid. Und dann, kommen wir nun zu den Schaufenstern.
Nachdem er mit seiner Arbeit fertig ist, lädt der Dekorateur ihn zu einem Kaffee ein. In der Bäckerei, am Tresen stehend, verrät er ihm, dass er Freunde bei der Polizei hat. Wichtig ist, sagt er, dass sein Beruf ihn zu den Läden der Syrer im Stadtteil Brás führt, zu den Juden in Bom Retiro, den Deutschen in Brooklin Paulista; die Regierung ist sehr an diesen Ausländern interessiert. Sie sind über alles im Bilde. Er verspricht zu helfen. Er wird versuchen herauszufinden, ob die Tochter verhaftet wurde und, falls ja, wohin man sie gebracht hat.
Kaum zu glauben, Caio, ein Polizeispitzel. Verblüfft und bereitwillig schreibt K. den Namen und das Alter seiner Tochter auf eine Papierserviette. Dozentin des Fachbereichs Chemie der Universität São Paulo, fügt er hinzu.
Am nächsten Tag schaut Amadeu, der Besitzer der Bäckerei, im Laden vorbei. Er würde gern ein Hemd anprobieren. Der Portugiese und der Jude kennen sich seit zwanzig Jahren. Während er so tut, als begutachte er das Hemd, erzählt der Portugiese von der Bäckerei, wie anstrengend es ist, stundenlang auf dem Podest an der Kasse zu stehen. Nur so behält er den Überblick über die gesamte Bäckerei, sagt er. Er hatte das Geflüster Caios am Tresen bemerkt und war zu dem Schluss gekommen, dass es um die verschwundene Tochter ging, was in der Straße jedermann bekannt war.
Eine gute Bäckerei, fährt der Portugiese fort, ist nicht nur ein Ort, an dem man Brot kauft, es ist ein Club, ein Treffpunkt, wie die Dorfapotheken. Haben Sie eine Vorstellung, über was die Leute sich an meinem Tresen alles auslassen? Zweitausend Kunden kommen tagtäglich in meine Bäckerei und samstags und
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