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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Transit
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einheitlich, elegant geführt, wie bei einer Schönschriftübung. Sie haben eine Farce inszeniert. Ein Theater, um mich auf die Folter zu spannen. Diese Informanten stecken alle unter einer Decke. Es handelt sich um ein makabres Netzwerk, in der Hölle sollen sie schmoren, »zoln zey alle geyn in dr’erd arayn«, schimpft er auf Jiddisch.
    Besorgt ging er im Geiste alle Daten durch, die er den hinterlistig lauschenden Informanten zugespielt hatte. Die gefährlichsten unter ihnen waren die hilfsbereitesten, wie Caio, die sich alles bis zum Ende anhörten und Versprechungen machten. K. selbst hatte ihnen mitgeteilt, wo er bereits nach seiner Tochter gesucht hatte, mit wem er gesprochen hatte, ob er wichtige Freunde hatte, Kontakte im Ausland, an welche Stellen er schriftliche Appelle oder Anzeigen gerichtet hatte, wer sein Anwalt war, ob er jemanden hatte, der ihm half. Und viele weitere Informationsfragmente. Was war ich für ein Esel, »ikh bin geveyn a groyser idyot«, schlussfolgerte K.: Ich war ein großer Idiot.
    Er quälte sich noch mit seinen Schuldgefühlen, als sein Freund, der Schriftsteller und Anwalt, anrief. Ein General würde K. auf Bitte jenes führenden Mitglieds der jüdischen Gemeinde von Rio de Janeiro empfangen. Diese Möglichkeit sollte nicht vertan werden. Und er teilte ihm die Anschrift und die Uhrzeit mit. Der General wird am Abend für Sie da sein. K. wusste schon nicht mehr, ob er nach den ganzen Gemeinheiten und der bereits seit so langer Zeit verschwundenen Tochter noch Hoffnung hegte. Doch der General würde ihn sicher nicht empfangen, um ihm etwas mitzuteilen, was ein Vater nicht hören könnte.
    An jenem Abend im Militärclub, als er die weißen, als Blütenblätter geformten Marmorstufen in die obere Etage hinaufstieg, betrachtete K. den imponierenden Bau mit seinen neoklassizistischen Linien. Plötzlich erinnerte er sich an eine andere Treppe zu einer anderen Zeit, in Warschau, ebenfalls aus Marmor und in neoklassizistischem Stil gehalten, deren Stufen er, noch jung und mutig, in geübten Sätzen genommen hatte, um nach dem Verbleib seiner Schwester Guita zu fragen, die auf einer Veranstaltung der Partei, der Linke Poalei Tzion, zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte, verhaftet worden war. Das Auftauchen dieses Bildes, das er unter den Trümmern der Erinnerung begraben wähnte, alarmierte ihn.
    K. war dreißig Jahre alt, als er, von der polnischen Polizei der Subversion beschuldigt, durch die Straßen von Wloclawek geschleift wurde. Aus diesem Grund emigrierte er auf schnellstem Wege, ließ Frau und Kind zurück, sie sollten erst ein Jahr später nach Brasilien nachkommen. Er wurde freigelassen mit der Auflage, das Land zu verlassen und die Kosten zu tragen, was ihm dank einer Sammelaktion seiner Parteigenossen auch gelang. Seine Schwester Guita, fünf Jahre älter, hatte nicht das gleiche Glück. Sie starb an Tuberkulose in der Kälte der Gefängniszelle.
    Das plötzliche Bild Guitas rief das des Polizeibeamten auf den Plan, der ihn oben auf der Treppe in Warschau angebrüllt und hinausgeworfen hatte, seine Schwester sei zu keinem Zeitpunkt verhaftet worden, sicher sei sie mit irgendeinem Liebhaber nach Berlin durchgebrannt.
    Er dachte immer noch an Guita, als er vor dem General stand, der ihn unhöflich empfing. Barsch forderte er ihn auf, sich zu setzen. Er warf ihm vor, schwere Anschuldigungen gegen die Militärs in der jüdischen Gemeinde zu verbreiten, die jeglicher Grundlage entbehrten. Und wenn Ihre Tochter mit irgendeinem Liebhaber nach Buenos Aires geflohen ist? Haben Sie diese Möglichkeit schon in Betracht gezogen?

    Die erste Brille
    »Du siehst gut aus«, bemerkte K., als er sie mit der Brille musterte.
    Sie sagte nichts, obwohl ein aufmerksamer Beobachter vielleicht ein flüchtiges Zucken ihrer Gesichtsnerven hätte feststellen können. Es war, als habe sie es nicht gehört. Sie hätte ihre Freundin Sarinha mitnehmen sollen, als ihr Vater die Gläser und die Fassung bestellt hatte. Jetzt war es zu spät, warf sie sich vor.
    Das Mädchen war vierzehn Jahre alt; sie hatte soeben die Brille aufgesetzt, die sie in der Woche davor mit ihrem Vater ausgesucht hatte und die an diesem Nachmittag geliefert worden war. Es war ihre erste Brille.
    Obwohl sie im Klassenraum in der ersten Reihe saß, sah sie das, was an die Tafel geschrieben wurde, teilweise immer undeutlicher. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um kleine Buchstaben und Zahlen unterscheiden zu können. Seit

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