Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
begrenzen. Zwei äußerst ertragreiche Schaffensphasen durchlebt Kafka in den Jahren 1912 bis 1914, aus denen mehrere vollendete Erzählungen und zwei der drei überlieferten Romanfragmente hervorgehen, außerdem die bei weitem intensivste und als Quelle wiederum bedeutsamste Korrespondenz, die Kafka je geführt hat, nämlich die mit Felice Bauer. Auch einige schmerzliche Erfahrungen, die sein Selbstbild prägten und die er lebenslang als modellhaft erinnern wird, gehören in jene Epoche, insbesondere die Auflösung seiner Verlobung wenige Wochen vor Beginn des Krieges. Anfang 1915 verändern sich Kafkas Lebensumstände, und es beginnt eine lange, unproduktive Zeit.
Auch die auf den ersten Blick vielleicht befremdende Entscheidung, mit der biographischen Arbeit nicht 1883 zu beginnen, im Jahr der Geburt, sondern am Ende von Kafkas Adoleszenz und im Vorfeld der ersten großen Schaffensphase, wurde von der besonderen Quellensituation vorgezeichnet. Seit der Publikation von Klaus Wagenbachs materialreicher Jugendbiographie im Jahr 1958 – zu jener Zeit konnten noch zahlreiche Augenzeugen befragt werden – hat sich der Kenntnisstand über Kafkas Kindheit, Schul- und Studienjahre kaum verbessert. Aufgrund der spärlichen autobiographischen Überlieferung aus jenen Jahren tun sich nach wie vor beträchtliche Lücken auf, in denen sich noch manche Überraschung verbergen dürfte. Diese unbefriedigende Situation würde sich zweifellos entscheidend bessern, wenn mit dem Nachlass des langjährigen Freundes Max Brod eine literaturhistorisch erstrangige und keineswegs nur im Zusammenhang mit Kafka bedeutsame Quelle endlich der Forschung zugänglich würde. Die Materialien in diesem Nachlass, insbesondere Brods Tagebücher und Briefwechsel, wären selbstverständlich für alle Lebensphasen Kafkas ein Desiderat; für die Zeit zwischen Kafkas zwanzigstem Lebensjahr und dem Beginn seiner eigenen Tagebücher sind sie jedoch nicht zu ersetzen. Es wäre unverantwortlich und für den Biographen ein wenig motivierendes Unternehmen, auf einer Wissensbasis zu arbeiten, die in absehbarer Zeit beträchtlich erweitert und dadurch wiederum revisionsbedürftig wird. Und mit einem Provisorium, das lediglich den Zweck erfüllt, die chronologische Ordnung zu wahren, wäre wohl auch dem Leser nicht gedient. – Aber darum die Hände in den Schoß legen?
{XXVII} Der Biograph hat einen Traum. Eine Utopie könnte man es nennen, auch wenn es vielleicht nicht mehr ist als ein geheimes Laster, eine Gier. Er will über das, was gewesen ist, hinaus. Er will wissen, nein, er will erleben, wie das, was gewesen ist, erlebt wurde von denen, die dabei waren. Wie es gewesen ist, Franz Kafka zu sein . Er weiß, dies ist unmöglich. Darum kennt nicht nur der Leser jene notorische Trauer zwischen den Zeilen jeder Lebensbeschreibung, die ja gewöhnlich mit Trennung und Tod endet. Auch der Biograph kennt sie. Er muss einsehen, dass die unbewusste Hoffnung, mittels gründlicher Recherche und tieferer Einfühlung immer noch einen Schritt weiter, immer noch ein wenig näher heranzukommen, ganz illusionär ist. Das fremde Leben entzieht sich, taucht auf wie ein Tier, das sich in der Dämmerung am Waldrand zeigt, verschwindet wieder. Da helfen keine methodischen Fallen, und die Käfige der Wissenschaft bleiben leer. Was also gewinnen wir mit all der Mühe? DAS WAHRE LEBEN DES FRANZ KAFKA – gewiss nicht. Aber ein vergänglicher Blick darauf, ein langer Blick, ja, vielleicht, das müsste möglich sein.
Kafka
Die Jahre der Entscheidungen
{3} Prolog
Der schwarze Stern
Mittwoch, 18.Mai 1910. Ein Himmelskörper nähert sich der Erde. Seit Monaten schwatzen Zeitungsmeldungen von einem möglichen Zusammenstoß, von gigantischen Explosionen, von Feuerregen und Flutwellen, vom Weltuntergang.
Schon prähistorische Zeiten kannten ihn, die Menschen des Mittelalters versetzte er in gläubige Panik. Längst aber hat sich herausgestellt, dass der Halleysche Komet eine pünktlich wiederkehrende Erscheinung ist. Kein von himmlischen Mächten gesandter Unglücksbote, sondern ein elliptisch um die Sonne wandernder Klumpen aus porösem Gestein und Eis, dessen Auftauchen man auf Tag und Stunde genau vorhersagen kann. Alle 76 Jahre tritt er aus dem Dunkel sonnenferner Räume und zieht eine Schleppe aus Licht über den Himmel. Woraus dieses Feuerwerk besteht, weiß man seit Erfindung der Spektralanalyse: Kohlenwasserstoffe, Natrium, alles längst bekannte Elemente und Verbindungen.
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