Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
alles trifft Wort für Wort auf Kafka zu. Erstaunlich, wie wenig er trotz alledem »verdarb«: Wo man ihn hinstellte, bewährte er sich, als Schüler, Student, Beamter. Doch nichts ging ihm ›von der Hand‹, jede Entscheidung, auch die geringfügigste, war jenem Strom der Assoziationen erst zu entreißen. »Alles gibt mir gleich zu denken«, schrieb er einmal. Alles gab ihm gleich zu schreiben. Das Leben aber musste er erst übersetzen.
Diese eigentümliche Dialektik von An- und Abwesenheit reicht bis ins Innerste des literarischen Werks. Die zahllosen Tagesreste aus Alltag und privatesten Sorgen, die Kafka dort abgelagert hat, sind unübersehbar. Die beispielhafte Allgemeingültigkeit seines Werks aber ebenfalls. Dieser Widerspruch, dieses Rätsel ist vielleicht der entscheidende Prüfstein jedes biographischen Unterfangens. Wenn der sozial unscheinbarste Mensch dazu fähig ist, in der Geschichte der Weltkultur eine Schockwelle auszulösen, deren Echos bis heute nachhallen, dann scheint es unvermeidlich, Leben und Werk als inkompatible Welten zu betrachten, die ihren je eigenen Gesetzen folgen. »Das Leben des Autors ist nicht das Leben des Menschen, der er ist«, heißt es apodiktisch in Valérys Randnotizen zu den ›Leonardo‹-Essays. Und Kafka selbst grub noch eine Schicht tiefer: »Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener.« Das haben wir zu respektieren. Doch der Biograph kann hier nicht stehen bleiben. Er hat zu erklären, wie aus einem Bewusstsein, dem alles zu denken gibt, ein Bewusstsein werden konnte, das allen zu denken gab . Das ist die Aufgabe.
»Wir kennen uns nur selbst«, notierte Lichtenberg in seinen SUDEL-BÜCHERN, »oder vielmehr, wir könnten uns kennen, wenn wir wollten; allein die andern kennen wir nur aus der Analogie, wie die Mondbürger.« Das ist, wie wir längst wissen, doppelt falsch. Um sich selbst zu kennen, genügt es bei weitem nicht, sich kennen zu wollen . Und was die anderen betrifft, so kommt man erstaunlich oft mit einer Kombination aus Lebenserfahrung und schlichtestem, instrumentell angewandtem Psycho-Wissen aus, um bestimmte Handlungen, selbst Impulse und Gedanken vorauszusehen. Anderes wiederum bricht in so spontaner, bisweilen gewaltsamer Weise hervor, dass keine Analogie den Schrecken abzuwenden vermag.
Empathie lautet das Zauberwort des Biographen. Empathie hilft weiter, wo Psychologie und Erfahrung versagen. Selbst das empirisch noch so gut dokumentierte Leben bleibt mysteriös, wenn der Biograph im Leser nicht die Bereitschaft und die Fähigkeit wachruft, sich einzufühlen in einen Charakter, eine Situation, ein Milieu. Daher die eigentümliche Sterilität mancher dickleibiger, von Daten und Quellenangaben förmlich aufgeschwemmter Biographien: Sie geben vor, alles zu sagen, was man sagen kann, doch sie sprechen gleichsam über ihren Gegenstand hinweg und stillen darum auch die Neugier nicht.
Andererseits ist Empathie eine methodologische Droge, und es rächt sich, gedankenlos mit ihr zu hantieren. Gewiss bietet sie glückliche Augenblicke der Erleuchtung: Man vollzieht innerlich nach, was ein anderer erfuhr, und dann begreift man scheinbar ohne Mühe, oder glaubt zu begreifen, wo man bisher vor einem Rätsel stand. Doch Empathie ist kein willkürlich abrufbarer psychischer Zustand, vielmehr eine komplexe Leistung, die – nicht anders als jene Disposition, die ›Intelligenz‹ heißt – zunächst einmal den Brennstoff des Wissens und der Bildung benötigt. Empathie ohne hinreichendes Wissen ist eine Mühle, die leeres Stroh drischt. Um das zwanghafte, neurotische Moment in Kafkas Gewohnheiten und Entscheidungen zu erfassen, genügt es bei weitem nicht, selbst neurotisch zu sein (auch wenn das bisweilen nützlich ist). Und um die Situation des Knaben zu verstehen, des einzigen Sohnes, der an jährlich drei, vier jüdischen Festtagen an der Hand des Vaters den Tempel aufsucht, sich dort langweilt, während der Vater erkennbar ans Geschäft oder an die jüngsten antisemitischen Parolen denkt – dazu hilft Empathie zunächst einmal gar {XXIV} nichts, und selbst ein im jüdischen Glauben aufgewachsener Beobachter wird keine Tiefenschärfe erzielen, wenn er die historische Situation nur vom Hörensagen kennt.
Das kulturell Fremde, das längst Vergangene, nicht zuletzt auch das Psychotische, das eine Gesellschaft ebenso ergreifen kann wie den Einzelnen – sie markieren die äußeren Grenzen, die dem empathischen
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