Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)
Ein ganz gewöhnlicher Dienstag
Ein methodischer Geist ist alles.
Will West begann jeden Tag mit diesem Gedanken, noch bevor er die Augen öffnete. Hatte er sie dann geöffnet, begrüßten ihn die gleichen Worte in dreißig Zentimeter großen Druckbuchstaben auf einem Spruchband, das quer über die Wand seines Zimmers gespannt war:
Nr. 1: EIN METHODISCHER GEIST IST ALLES.
Regel Nr. 1 auf Dads Liste der Lebensregeln – und der Rat, den sein Vater für den wichtigsten hielt. Sich an diesen Rat zu erinnern, war eine Sache, doch ihn zu befolgen, wenn man so hitzköpfig war wie Will, war alles andere als einfach. Aber hatte Dad den Spruch nicht genau aus diesem Grund ganz oben auf die Liste gesetzt und an Wills Wand gehängt?
Will rollte aus dem Bett, reckte sich und schaute auf sein iPhone: 07.01 Uhr. Dann tippte er auf den Kalender und checkte seinen Tagesplan. Dienstag, 7. November:
– Morgentraining mit dem Crosslauf-Team
– Tag 47 des zehnten Schuljahrs
– Nachmittagstraining mit dem Crosslauf-Team
Toll. Zwei Läufe und dazwischen sieben Stunden Novocain fürs Gehirn. Will holte tief Luft und fuhr sich mit den Fingern energisch durch die schlafzerzausten Haare. Dienstag, 7. November, ein normaler, ganz gewöhnlicher Tag. Kein größerer Stress zu erwarten.
Also warum hab ich dann das Gefühl, als würde ich gleich vor ein Erschießungskommando gestellt?
Er zermarterte sich das Hirn, konnte aber keinen Grund finden. Als er seine Laufhose anzog, erhellte strahlender Sonnenschein das Zimmer. Das beste Wetter der Welt – Kaliforniens wichtigstes Gut. Will zog die Vorhänge zurück und schaute hinaus auf die Topatopa Mountains, die sich jenseits des Hofs in der Ferne erhoben.
Wow . Die Berge waren vom ersten Wintersturm, der in der Nacht zuvor getobt hatte, in Schnee gehüllt. Von hinten durch die Morgensonne angestrahlt, traten sie so scharf und klar hervor, als wären sie mit einer hochauflösenden Kamera aufgenommen worden. Will hörte vertraute Vogelstimmen und sah, wie die kleine Amsel mit der weißen Brust auf einem Ast vor seinem Fenster landete. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn neugierig und furchtlos, wie schon seit ein paar Tagen. Sogar die Vögel spürten es.
Es geht mir gut. Alles ist okay .
Aber wenn es ihm wirklich gut ging, woher kam dann dieses mulmige Gefühl eines drohenden Unheils? Waren das vielleicht die Nachwirkungen eines vergessenen Albtraums?
Ein widerborstiger Gedanke drängte sich ihm auf: Dieser Sturm hat mehr als nur Schnee gebracht .
Was? Keine Ahnung, was das bedeuten sollte … Moment mal, hatte er nicht von Schnee geträumt? Irgendwas mit Rennen? Das silbrige Traumfragment verblasste, bevor Will es zu packen bekam.
Ach egal – genug von diesem Wirrwarr im Kopf. Zeit, dieses Bammelgefühl auszuknipsen. Will erledigte sein restliches Morgenprogramm und sprang dann die Treppe hinunter.
Mom saß in der Küche vor ihrer zweiten Tasse Kaffee. Die Lesebrille aufgesetzt, deren Band über ihr dichtes schwarzes Haar hing, tippte sie auf ihrem Handy herum und organisierte ihren Tag.
Will schnappte sich einen Power-Shake aus dem Kühlschrank. »Unser Vogel ist wieder da«, verkündete er.
»Hm. Beobachtet wohl wieder Menschen«, meinte sie, legte dann das Smartphone weg und schlang die Arme um ihn. Mom ließ sich keine Umarmung entgehen: Sie war eine dieser hingebungsvollen Umarmerinnen, die in einem solchen Moment nichts anderes interessierte – nicht einmal Wills Demütigung, wenn sie ihn in aller Öffentlichkeit in den Zangengriff nahm.
»Viel zu tun heute?«, fragte er.
»Wahnsinnig viel. Und du?«
»Das Übliche. Schönen Tag. Bis später, Mom.«
»Bis später, Will-Bär. Hab dich lieb.« Ihre silbernen Armbänder klimperten, als sie sich wieder dem Handy zuwandte und Will zur Tür ging. »Für immer und ewig.«
»Ich hab dich auch lieb.«
Später – und gar nicht mal so viel später – sollte er sich von ganzem Herzen wünschen, er wäre stehen geblieben, wäre zurückgegangen, hätte sie festgehalten und nicht mehr losgelassen.
Will erreichte den Fuß der Eingangstreppe und schüttelte die Beine aus. Nahm einen tiefen Atemzug der erfrischenden, klaren und kalten Morgenluft und atmete sie in einer sichtbaren Wolke wieder aus, bereit loszulaufen. Dieser Augenblick war eigentlich der beste Moment des ganzen Tages … doch dann packte ihn wieder diese schwermütige, düstere Stimmung.
Nr. 17: BEGINNE JEDEN TAG MIT DEN WORTEN: DAS LEBEN IST SCHÖN.
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