Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Zierschriften und Java-Animationen einmal beiseite, so erweist sich das web als durchaus sekundäres Medium. So gut wie alles, was zum Thema Kafka von Interesse ist, stammt wiederum aus dem Regal ›K‹, wo man es bequemer hätte nachlesen können; zu schweigen davon, dass es hier keinerlei Qualitätsfilter gibt – mit den bekannten Folgen. Die Bühne jenes jüngsten Mediums wird beherrscht vom Prinzip der Wiederholung und des entspannten Plagiats, und die Frage ist nur noch, ob das, was hier gespielt wird, die Steigerung, die Parodie oder schon der Verfall des Kafka-Kultus ist.
Erschöpft richtet der interessierte Laie seine Hoffnungen auf die Biographik. Eine intelligente, farbige Lebensbeschreibung, möglichst {XVII} illustriert, verfasst von einem Autor, der auf dem Stand der Forschung ist, ohne damit ständig paradieren zu müssen – dies ist, so eine verbreitete Meinung, noch immer der Königsweg, um sich mit einem Klassiker bekannt zu machen. Schließlich muss niemand mehr fürchten, mit chronologischen Daten und hagiographischen Gemeinplätzen abgespeist zu werden, denn die Zeiten, da Biographien wie Konfektionsware produziert wurden, sind vorüber. Die Ansprüche sind drastisch gestiegen, und die jüngsten Standardbiographien zu Goethe, Schopenhauer, Wittgenstein, Thomas Mann, Virginia Woolf, Nabokov, Joyce und Beckett werfen zu Recht die Frage auf, ob man die Biographie nicht als eigenständige literarische Kunstform endlich nobilitieren solle.
Doch hier wartet die nächste Überraschung. Die große Biographie Franz Kafkas existiert nicht. Selbst die Zahl gesamtbiographischer Anläufe ist spärlich, und mehr als weltweit drei oder vier lesenswerte Einführungen sind bisher nicht zu verzeichnen. In Deutschland, wo Kafkas Sprache gelesen und gesprochen wird, gibt es ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod, ein halbes Jahrhundert nach der ersten brauchbaren Werkausgabe keine einzige Biographie Kafkas – abgesehen von der selbst antiquarisch kaum mehr zugänglichen Jugendbiographie Klaus Wagenbachs und dem ebenfalls längst vergriffenen KAFKA-HANDBUCH Hartmut Binders, das indessen wegen seines lexikalischen Stils eher konsultiert als gelesen wird. Man ist versucht, von einem rezeptionsgeschichtlichen Offenbarungseid zu sprechen, einer Anomalie, die dringend der Erklärung bedarf. Was ist hier passiert? Woher dieses unvermittelte Schweigen in all dem Lärm, woher diese Scheu?
An Materialmangel liegt es gewiss nicht. Zwar gibt es noch immer weiße Flecken von beträchtlicher Ausdehnung, doch insgesamt hat sich das Wissen über Kafkas Leben und Lebensumfeld seit den siebziger Jahren vervielfacht. Allein die jahrzehntelange Forschungsarbeit Hartmut Binders hat eine so immense Fülle von Resultaten erbracht, dass noch gar nicht recht zu ermessen ist, wie sehr sich unser Bild Kafkas dadurch langfristig verändern wird. Daneben gibt es materialreiche Monographien zu Kafkas Familie (Northey, Wagnerová), zu seinen Verlagsbeziehungen (Unseld), zur Frage von Kafkas jüdischer Identität (Baioni, Robertson), zum kulturellen Milieu Prags (Spector) {XVIII} und zu etlichen weiteren Aspekten. Hans-Gerd Koch hat die Tagebücher und Briefe extensiv kommentiert, die Kritische Ausgabe von Kafkas Werken sowie Faksimileeditionen einiger Manuskripte ermöglichen tiefe Einblicke in den Schaffensprozess. Ganz zu schweigen davon, dass selbst altbekannte biographische Quellen wie die BRIEFE AN FELICE noch gar nicht systematisch ausgewertet sind. Es ist ein Schlaraffenland, gemessen an der kargen Schwarz-Weiß-Szenerie, die man noch in den sechziger Jahren für den ›biographischen Hintergrund‹ hielt. Heute darf der Biograph aus dem Vollen schöpfen. Und er muss es auch.
Dass dennoch kaum jemand sich zu einem biographischen Großporträt entschließen mochte, muss auf Ursachen zurückgehen, die im Gegenstand selber liegen. Quantität ist nicht nur ein Vorzug: Ein Puzzle, das aus einer großen Zahl von Einzelteilen besteht, ist interessanter, aber auch schwieriger. Biographisches Faktum und Biographie verhalten sich nicht wie Summand und Summe, und die Aufgabe des Biographen erschöpft sich nicht darin, die vollgekritzelten Karteikärtchen sauber zu ordnen und dann den Kasten zu schließen (auch wenn sonderbarerweise einige der bedeutendsten Kafkaspezialisten bis heute an diesem Missverständnis festhalten). »Was ich zu bieten habe«, schreibt der Goethebiograph Nicholas Boyle in seinem Vorwort, »ist eine Synthese aus
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