Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Synthesen, und der Wert der Kompilationen, auf denen meine Arbeit fußt, wird diese selber lange überdauern. Wenn aber eine solche Synthese nicht von Zeit zu Zeit, und für eine bestimmte Zeit, unternommen wird, wozu sind dann die Kompilationen gut?« Genauer und aufrichtiger kann man es nicht sagen. Anspruchsvoller aber auch nicht. Gerade das Wort von der »Synthese aus Synthesen« gewinnt, auf Kafka übertragen, noch einen besonderen Sinn, der die eigentümliche biographische Abstinenz vielleicht zu deuten hilft.
Nehmen wir an, wir stünden vor der Aufgabe, die Biographie eines prominenten Sportlers zu verfassen. Dieser Sportler stammt aus einem zerrütteten Elternhaus, er hatte eine Zeitlang Probleme mit Drogen, die er aber überwunden hat, seit er sich in seiner trainingsfreien Zeit um die eigenen Kinder kümmert und überdies für amnesty international engagiert. Die Topik eines solchen Lebens liefert ein Schnittmuster der biographischen Darstellung: die Herkunft, die kompensatorische {XIX} Hinwendung zum Sport, die sportliche Laufbahn selbst, die Krisenzeit, das soziale Interesse, schließlich Ehe und Kinder als intimes Zentrum und als Fenster zur Zukunft. Die thematischen Blöcke, ja eigentlich schon die Kapiteleinteilung sind hier klar vorgegeben, und falls der Biograph nicht von vornherein auf die Techniken der Montage und des patchwork setzt, so wird seine synthetische Leistung sich darauf beschränken dürfen, die Blöcke durch weiche Übergänge miteinander zu verbinden. Schließlich soll der Leser nicht den Eindruck gewinnen, hier werde ein Leben abgehakt wie ein Einkaufszettel.
Die meisten Biographien, auch die besten, dürften auf diese Weise entstanden sein: mittels einer Art von Wabentechnik. Das Bild des gelebten Lebens zerfällt zunächst in eine gewisse Anzahl thematischer Segmente, die relativ unabhängig voneinander sind und zumeist auch unabhängig recherchiert werden müssen: Herkunft, Bildung, Einflüsse, Leistungen (oder Untaten), soziale Beziehungen, Religion, politischer und kultureller Hintergrund. Auch wenn schließlich noch so viele Interdependenzen dieses klare Bild verwischen: Will der Biograph seinen Leser nicht einer chaotischen Fülle ausliefern, so bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als die Fiktion einer topischen Übersichtlichkeit zunächst aufrechtzuerhalten und die einzelnen Themen je für sich zu synthetisieren: das heißt, die Waben zu ›schließen‹. Dann erst, in einem zweiten Schritt, wird er versuchen, die einzelnen Zellen miteinander zu verkleben, und zwar so, dass die leeren Zwischenräume minimiert werden: eine Synthese aus Synthesen.
Daraus folgt zunächst, dass die Schilderung eines äußerlich ereignisreichen Lebens gerade nicht die großen technischen Probleme aufwirft, die der Laie erwarten würde. Äußere Ereignisse kann man linear erzählen, und häufig ist mit Brief und Siegel beweisbar, wie sie kausal auseinander hervorgingen. Sie machen daher eine Lebensbeschreibung umfangreicher, aber nicht zwangsläufig auch schwieriger: Die Waben liegen in einer Reihe, und das ideelle Muster dieser Art von Biographie ist die ›Lebensreise‹.
Ganz andere Anforderungen hingegen stellen Figuren, bei denen die Zahl der Topoi begrenzt, deren wechselseitige Abhängigkeit aber schwer durchschaubar ist: komplexe Charaktere, bei denen ›alles mit allem‹ zusammenhängt. Kafka ist hier der wahrhaft paradigmatische {XX} Fall: ein wenig beweglicher Mensch, der sich lebenslang mit den immer gleichen Problemen herumschlug und der sich nur selten auf Neues einließ. Vaterkonflikt, Judentum, Krankheit, Kampf um Sexualität und Ehe, Angestelltendasein, Schaffensprozess, literarische Ästhetik: Es bedarf keiner weitläufigen Analyse, um die Brennpunkte dieser Existenz zu benennen, die derart statisch scheint, dass man sich fragen muss (und dies wurde gefragt), inwiefern von einer Entwicklung hier überhaupt die Rede sein kann. Dies Netz, so scheint es, wurde niemals ausgeworfen in die Welt, es war einfach da .
Aber eben – ein Netz. Alles scheint allem gleich nah. Kafkas Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Vater überformte seine jüdische Identität, sein Körperbild und sein Sexualleben. Doch seine Beschäftigung mit Zionismus und ostjüdischer Kultur, seine Hypochondrien und ›Heiratsversuche‹ verschärften wiederum den innerfamiliären Konflikt, verwirrten den ödipalen Knoten bis zur Unlöslichkeit. Soll man – um noch ein wenig genauer hinzusehen –
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