Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
unfreiwilligen) Ironie. Die Tatsache, dass wir uns über seine sozialen Beziehungen klarer geworden sind, dass er uns gleichsam körperlicher entgegentritt – wozu nicht zuletzt die zahlreichen veröffentlichten Fotografien aus seinem Umfeld beitrugen –, hat daran wenig geändert. Und würden irgendwo ein paar Sekunden Film entdeckt, die Kafka in Bewegung zeigen, oder die Walze eines Diktiergeräts, die seine Stimme konserviert hat, so wären wir glücklich überrascht, doch gewonnen wäre wenig. Wir können ihn uns nicht vorstellen, hier, im Sessel gegenüber, an der Kasse im Supermarkt, am Tresen um die Ecke. Es bleibt eine kulturelle Aura, die auf Distanz hält, eine Fremdheit, ein Anderssein , das wir keinen Augenblick vergessen und das mit seinem Scheitern ebenso wie mit seinem Ruhm in schwer durchschaubarem Zusammenhang steht.
Es ist ein schmaler Grat, auf den er uns nötigt. Auf der einen Seite die karge Lebensbilanz, ein tiefes Minus, das umso bedrückender ausfällt, je weiter man Kafkas Existenz auf Handgreifliches zurückführt, sie gleichsam skelettiert. Auf der anderen Seite die blinde Verehrung des Auratischen, die nicht danach fragt, mit welchen Opfern an Glück und Freiheit, mit welch psychischem Leid, um nicht zu sagen: Elend ein solch singuläres literarisches Werk erkauft ist. Weder so noch so erschließt sich dieses Leben, und in beiden Haltungen, so viel ist gewiss, steckt ein Moment von Barbarei.
Die Frage allerdings, was denn ein solcher Mensch von seinem Leben eigentlich gehabt hat … sie ist ebenso unvermeidlich wie das Staunen vor dem Unbegreiflichen. Kein Leser von Kafkas Tagebüchern und Briefen, erst recht nicht der Biograph, vermag diesem Zweifel auszuweichen – er müsste denn seinen Protagonisten so unbeteiligt beobachten wie ein Präparat unter Glas. Doch über die Frage, ob der Preis zu hoch war, entscheiden nicht wir. Jede Epoche, jede soziale Gruppe, jedes Individuum trifft diese Entscheidung nach Maßstäben, die nicht ohne weiteres in andere Kontexte übertragbar sind. Da diese Maßstäbe aber zugleich mächtige Impulse sind, die den Einzelnen dazu bestimmen, die Weichen so oder anders zu stellen, sein Glück hier oder dort zu suchen, wird jeder, der sie übergeht oder gar durch eigene Kriterien ersetzt, vor dem fremden Leben wie vor einem undurchdringlichen {XIV} Rätsel stehen, dem er nichts entgegenzusetzen hat als Scheinlösungen und moralische Fußnoten. »Das eben ist das Elend der Trivialbiographie«, notiert Wolfgang Hildesheimer im Vorwort seiner Mozartbiographie. »Sie findet für alles jene eingängigen Erklärungen innerhalb der uns zugänglichen und dem Radius unseres Erlebens entsprechenden Wahrscheinlichkeit.«
Diese Frage des hermeneutischen Horizonts wird umso dringlicher, je unabhängiger und schöpferischer der Mensch ist, den wir zu verstehen suchen. Der Reichtum von Kafkas Existenz hat sich wesentlich im Psychischen entfaltet, im Unsichtbaren, in einer vertikalen Dimension, die mit der sozialen Landschaft scheinbar gar nichts zu tun hat und diese dennoch überall, in jedem Punkt durchdringt. Wer unter dem ersten Lektüreeindruck des VERSCHOLLENEN oder des SCHLOSSES steht, dem wird es schwerlich einleuchten, dass der Beruf des Autors, sein Familienstand, seine Vorlieben und Abneigungen das Geringste zur Sache tun. Selbst noch die Tagebücher bekräftigen diesen Eindruck einer ganz autonomen Innerlichkeit: Kafkas Fähigkeit, eine Situation mit einem Blick und dennoch in höchster Auflösung zu erfassen, die signifikanten Einzelheiten herauszufiltern, verborgene Zusammenhänge aufzuspüren und all dies in einer von präzisen Bildern gesättigten, jede Unschärfe vermeidenden Sprache festzuhalten – es ist eine Fähigkeit, die ans Wunderbare grenzt und jeder denkbaren sozialen oder psychologischen Erklärung spottet. ›Genie‹ nannte man dergleichen. Genie aber ist geschichtslos, ortlos, es kommt, man kann es nicht anders sagen, von tief innen , und wenn dergleichen überhaupt menschenmöglich ist, dann – so stellen wir uns vor – müsste es überall und jederzeit möglich sein. Wozu dann aber eine Biographie? Um zu erfahren, dass auch das Genie essen und verdauen muss?
Freilich, der Begriff des Genies ist anrüchig. Ein Rennpferd mag ›genial‹ sein (um Musils berühmtes Beispiel zu zitieren), ein Schriftsteller hingegen, der etwas leistet, will nicht gelobt sein für das, was ihm nur zufällt. Zu schweigen von der Literaturwissenschaft, die ja
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