Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Versicherungsanstalt, ostjüdische Schauspieler, Ärzte, die ihn behandelten, Freundschaften, die Kafka in Sanatorien schloss, Prager Künstler, Autoren und Journalisten, schließlich die Menschen aus dem Umfeld Dora Diamants –, so wäre das Verzeichnis der Opfer noch um einiges länger. Beispielhaft das Schicksal des Lyrikers Ernst Feigl: Er überlebte in Prag dank seiner nichtjüdischen Frau, drei seiner Geschwister jedoch wurden in Konzentrationslagern getötet.
Prager Juden, die über keinen derartigen Rettungsanker verfügten wie Feigl, entgingen dem Mord nur auf zweierlei Weise: indem sie rechtzeitig starben oder rechtzeitig flohen. Hermann Kafka musste den Aufstieg der Nazis nicht mehr miterleben, Kafkas Mutter Julie jedoch, die ihren Mann um drei Jahre überlebte und im September 1934 starb, hat die Drohung noch wahrgenommen. Oskar Baum wäre unweigerlich deportiert worden, wäre er nicht 1941 an den Folgen einer Operation verstorben. Seine Frau Margarete hingegen verbrachte ihre letzten Tage im Konzentrationslager Theresienstadt.
Viele andere, die Kafka nahestanden, überlebten durch Flucht. Felice Bauer emigrierte mit ihrem Ehemann Moritz Marasse und den beiden Kindern in die USA, ebenso ihre Schwestern Erna und Else (zwei Tanten Felices hingegen nahmen sich unmittelbar vor der Deportation das Leben). Die Ehepaare Brod und Weltsch entkamen den in Prag einmarschierenden deutschen Truppen im letztmöglichen Augenblick und gelangten nach Palästina. Dora Diamant lebte zunächst in der Sowjetunion an der Seite ihres Ehemannes Ludwig Lask; nach dessen Verurteilung zu Lagerhaft gelang ihr die Ausreise, sie wurde in England während des Krieges kurzzeitig interniert und blieb dann in London bis zu ihrem frühen Tod 1952. Auch Kafkas Nichte Marianne Steiner entkam nach England, ebenso die Schriftsteller {620} Otto Pick und Rudolf Fuchs sowie Milenas erster Ehemann Ernst Pollak. Robert Klopstock emigrierte in die USA und machte Karriere als Lungenfacharzt. Georg Langer, Puah Ben-Tovim und Tile Rössler gingen nach Palästina. Eine Reihe prominenter Emigranten, die Kafka gekannt hatte, wurden über mehrere Kontinente verstreut: Franz Werfel, Willy Haas, Egon Erwin Kisch, Johannes Urzidil, Albert Ehrenstein, Martin Buber und andere.
Die Welt, in der Kafka aufwuchs und die er über Jahrzehnte niemals als Heimat, aber doch als vertraute Umgebung und existenzielles Zentrum empfand, wurde von zwei Wellen der Zerstörung erfasst. Zunächst durch den Ersten Weltkrieg, der zwar seine Familie und seine Freunde physisch weitgehend verschonte, der jedoch eine soziale, eine kulturelle, ja selbst eine moralische Transformation nach sich zog, die Kafka dazu zwang, sich völlig neu zu orientieren. Er fühlte sich entwurzelt, als Jude gefährdeter denn je, und das tschechisch dominierte Prag der zwanziger Jahre vermochte er mit dem Prag seiner Erinnerung nur noch schwer zur Deckung zu bringen.
Die zweite Welle der Gewalt, initiiert durch das Naziregime in Deutschland, ist Kafka erspart geblieben. Die Besetzung der Tschechoslowakei, der deutsche Terror, der Genozid an den Juden und der Zweite Weltkrieg haben jedoch seine Lebenswelt endgültig gesprengt. Besiegelt wurde dadurch nicht nur das Schicksal zahlreicher Menschen, die ihm nahestanden; ausgelöscht wurden auch ungezählte Spuren, die Kafkas Lebenswelt im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Vernichtet wurden Briefe, Fotografien, Nachlässe, selbst ganze Archive: eine gleichsam in die Vergangenheit zurückwirkende Gewalt, die es in vielen Fällen unmöglich macht, das Verlorene zu identifizieren, ja als Verlorenes überhaupt wahrzunehmen. Hätte Kafka das doppelte Glück erfahren, zunächst der Tuberkulose und dann auch dem Lager zu entkommen – er hätte nach dem Ende dieser zivilisatorischen Katastrophe nichts mehr wiedererkannt. Seine Welt gibt es nicht mehr. Nur seine Sprache lebt.
{621} Dank
Diese biographische Arbeit entstand im kontinuierlichen Austausch mit Ulrike Greb, Ursula Köhler, Jochen Köhler und Anna Boskamp. Ihrer jahrelangen geduldigen Lektüre und Mitarbeit verdanke ich zahlreiche sprachliche und sachliche Verbesserungen, die Lösung von Problemen der Darstellung, nicht zuletzt aber auch Ermutigung in besonders kritischen Phasen.
Mein besonderer Dank gilt Hans-Gerd Koch. Er stellte eine Fülle von Materialien, Informationen und Forschungsergebnissen zur Verfügung, ohne die mancher biographische Zusammenhang entweder nicht ›erzählbar‹
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