Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
fragte Kafka und überreichte ihr einen Strauß Veilchen, heute mit ihm ins Deutsche Theater zu gehen, es gebe DIE RÄUBER von Schiller, und sie könne ja auch noch Freundinnen aus der Ferienkolonie mitbringen.
Am Abend fuhr Kafka mit der U-Bahn zum Oranienburger Tor und saß dann mit drei halbwüchsigen Mädchen im Theater. Er war bleiern müde, und es fiel ihm schwer, dem seit Schulzeiten vertrauten Stück zu folgen. Einmal aber stieß er seine Nachbarin an, beugte sich hinüber und sagte leise: »Hörst du, Tile, Franz heißt die Kanaille!«
Dass er neuerlich abgenommen hatte, war nicht zu übersehen, er wirkte jetzt wieder ebenso schmal und zerbrechlich wie drei Jahre zuvor. 54,5 Kilogramm zeigte die Waage – nichts also war geblieben von den äußerlichen Kurerfolgen, die er sich in den Speisesälen von Meran und Matliary geradezu erkämpft hatte, und die Eltern, für die Franzens Körpergewicht noch immer ein Gradmesser der Hoffnung war, fragten mit Recht, wie es denn jetzt weitergehen solle. Natürlich hatte es nicht Ellis Aufgabe sein können, in Müritz über seine Ernährung zu wachen. Aber dieses Problems musste sich jetzt irgendjemand annehmen, schließlich waren die Zeiten der Not und des ›Schleichhandels‹ längst vorüber, anders als in Deutschland war auf den Märkten in Böhmen alles zu haben, er musste es eben nur hinunterschlucken und durfte dabei nicht an die Preise denken. Am Ende war es wieder einmal Ottla, die aushalf: Sie hatte sich ja schon einige Male, selbst unter widrigsten Bedingungen, als eine Meisterin des ›Auffütterns‹ erwiesen, überdies war sie unternehmungslustig, denn wegen ihrer zweiten Schwangerschaft hatte sie noch keine Ferien gehabt. So wurde beschlossen, dass Kafka – wie im Jahr zuvor – für einige Zeit mit Ottla in die Sommerfrische fahren sollte, nach Schelesen diesmal, also wiederum nahe genug, um auch Josef David gelegentliche Besuche zu ermöglichen.
Fünf Wochen blieb Kafka – über die äußeren Umstände, unter denen die Geschwister im Haus eines Kaufmanns lebten, ist nur wenig überliefert. Doch besser hätte er es für den Augenblick nicht treffen können. Zum einen war ihm Schelesen seit langem vertraut, vor Überraschungen war Kafka hier sicher, und selbst die wehmütige {551} Erinnerung an die heiteren Spaziergänge mit Julie Wohryzek und an die inneren Kämpfe um den BRIEF AN DEN VATER – wie fern das alles jetzt war – müssen ihn darin bestärkt haben, dass ihm mit Dora ein spätes Wunder begegnet war und dass seine neuen Pläne weit realistischer und auch autonomer waren als alles, was er vor wenigen Jahren noch so erbittert verteidigt hatte. Zum anderen aber war Ottla der einzige Mensch, dem er Entscheidungen von solcher Tragweite überhaupt offenbaren konnte. Für Angelegenheiten des ›Herzens‹ zeigte sie Verständnis auch dann, wenn sie ihrem eigenen Erleben völlig widersprachen, und dass ihr Bruder auf die familienüblichen wohlmeinenden Ratschläge sehr gut verzichten konnte, wusste und akzeptierte sie.
Kafka hatte mit Dora vereinbart, dass sie in Berlin eine geeignete Unterkunft für ihn suchen und ihn nach der Übersiedelung mit allem Lebensnotwendigen versorgen würde (als »Wirtschafterin«, wie er es gegenüber Tile bezeichnete). Die Perspektive, dass dies eine Übersiedelung für immer werden könnte und dass sich aus dem gemeinsamen Wirtschaften vielleicht das wirkliche, seit langer Zeit mit allen Fasern ersehnte Zusammenleben mit einer Frau ergeben könnte, schien Kafka so ungeheuerlich, dass er mit Worten gar nicht daran zu rühren wagte: »ich muss ein kostbarer Besitz der Gegenkräfte sein«, schrieb er an Brod, »sie kämpfen wie die Teufel oder sind es.« [652] Aber selbst Brod erfuhr vorläufig nicht, dass Kafka einen wirklichen Abschied von Prag und von seiner Familie plante, allein Ottla blieb über die Vorbereitungen und über die beinahe tägliche Korrespondenz zwischen Schelesen und Berlin auf dem Laufenden. Ende August fand Dora eine bezahlbare Unterkunft, ein möbliertes Zimmer weit draußen in Steglitz, und in aller Heimlichkeit schickte Kafka die entscheidende Zusage.
Über seine Abreise informierte er die Eltern, wie es scheint, erst im letztmöglichen Augenblick, und er richtete es so ein, dass ihnen zu langen Diskussionen gar keine Gelegenheit blieb. Da Ottla ihre Unterkunft in Schelesen bis Mitte Oktober gemietet hatte, nahmen die Kafkas natürlich an, dass auch Franz dort bleiben würde, solange
Weitere Kostenlose Bücher