Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
einer, der gar nicht von sich selbst sprechen, der vielmehr lernen wollte wie alle anderen hier. Das gefiel ihr und beeindruckte sie. Von nun an sahen sie einander, so oft es Doras vielfältige Pflichten nur zuließen.
    Kafka hat über diese folgenreiche Begegnung lange Zeit Stillschweigen bewahrt, konsequenter noch, als es ohnehin seine Gewohnheit war. Allen erzählte er von seiner Begeisterung für das Volksheim, für die »fröhlichen, gesunden, leidenschaftlichen Kinder«: »Wenn ich unter ihnen bin«, schrieb er gar an Bergmann, »bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks« – das Glück der Identifikation, wie einst in Prag, als er durch die Fenster des Jüdischen Rathauses gebannt und erregt die dort provisorisch untergebrachten ostjüdischen Flüchtlingskinder beobachtete und sich nichts sehnlicher wünschte, als eines dieser Kinder zu sein. Allein gegenüber Klopstock räumte er ein, dass solches Traum-Glück nicht ohne den Schmerz der Desillusionierung zu haben war. Zwar sei ihm die Ferienkolonie, in der er jetzt beinahe jeden Abend verbrachte, »das wichtigste in Müritz und über Müritz hinaus«. Aber er bleibe dort eben Gast, »und nicht einmal ein eindeutiger Gast, was mich schmerzt, nicht eindeutig, denn mit der allgemeinen Beziehung kreuzt sich eine persönliche«. [651]   Immerhin versuchte er, auch die anderen angeknüpften Beziehungen aufrechtzuerhalten, er sprach mit der eifersüchtigen Tile Rössler und schrieb ihr später sogar einen langen, ernsthaften Brief nach Berlin. Und schließlich konnte er den Chawerim eine Überraschung bieten, die sein Renommee doch noch einmal bedeutend erhöhte: die Stippvisite seiner Freundin und Lehrerin Puah Ben-Tovim, einer echten Palästinenserin also – eine Sensation in Müritz.
    Anfang August traf auch Ellis Ehemann Karl Hermann ein, um noch ein paar Tage an der See zu verbringen, aber er hatte Pech: Das Wetter verschlechterte sich, es folgte ein Temperatursturz, der den Strand leerfegte und viele Gäste dazu veranlasste, die Koffer zu packen. Auch für Kafka waren die täglichen gemeinsamen Stunden mit Dora, die sie im warmen Sand inmitten der Kinder und oft mit hebräischer Lektüre verbrachten, unvermittelt zu Ende. Die Hermanns beschlossen, vorzeitig abzureisen, ob mit oder ohne Franz. Nun war vereinbart worden, dass er von der Ostsee noch für einige Tage nach Marienbad kommen sollte, zu den Eltern, die dort ihre jährliche Kur absolvierten. Aber auch in Marienbad wurde es über Nacht so ungemütlich, dass sie das Treffen absagten und lieber nach Hause fuhren. Kafka war also frei. Er musste jetzt nachdenken.
    Gesundheitlich hatte sich der Strandurlaub in Müritz als Fehlschlag erwiesen. Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen waren nicht zurückgegangen, das Gefühl fortwährender Müdigkeit und Schwäche wollte nicht weichen, und an Körpergewicht hatte er sogar verloren. Ausgerechnet hier, wo alle anderen sich kräftiger fühlten, war ihm klar geworden, dass Palästina physisch unerreichbar blieb. Aber auch gemeinsame Pläne mit Dora waren unter solchen Umständen nur schwer zu verwirklichen. Sie konnte jetzt nicht mit ihm reisen, noch waren die Ferien der jüdischen Kinder nicht zu Ende, aber sie wünschte sich sehnlich, dass er nach Berlin käme, und sie war bereit, ihm das Leben dort zu erleichtern, soweit es in ihrer Macht stand. Als Tuberkulosekranker freiwillig in Berlin zu überwintern, in einer kalten, inflationsgeplagten und sozial zerrütteten Millionenstadt, das war allerdings eine Entscheidung, für die er in Prag gewiss kein Verständnis finden, für die er würde kämpfen müssen.
    Dennoch, er tat den ersten Schritt. Ohne der Schwester und dem Schwager zu offenbaren, was er vorhatte, verabschiedete er sie in Berlin und nahm für drei Nächte ein Hotelzimmer. Er wollte die Lage sondieren, vermutlich studierte er den Wohnungsmarkt im Berliner Tageblatt und besichtigte von Dora empfohlene Bezirke. Ob er in Berlin auch Bekannte aufsuchte, wissen wir nicht – mit einer Ausnahme. Bereits am ersten Nachmittag rüttelte er an der Tür der Charlottenburger Buchhandlung Jurovics, in der Tile Rössler angestellt war. Dass manche Läden seit neuestem ziemlich früh schlossen, war ihm wahrscheinlich schon aufgefallen – niemand wollte {550} am Abend noch etwas verkaufen zu den Preisen vor Börsenschluss, auch Bücher nicht. Endlich aber, nach mehrmaligem Klopfen, öffnete die überraschte und entzückte Tile. Ob sie Lust habe,

Weitere Kostenlose Bücher