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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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die Witterung es zuließ. Doch plötzlich, am 21.September, erschien er in Prag und gab bekannt, dass er am übernächsten Tag nach Berlin reisen werde, und zwar allein, entgegen allen medizinischen Bedenken. Ja, ein wenig hatte er zugenommen unter der {552} Aufsicht der Schwester, man konnte es erkennen, wenn man sehr genau hinschaute, das war vor allem die wohltätige Wirkung frischer Landbutter. Die war in Berlin aber nicht zu bekommen, vieles andere nur zu horrenden Preisen, wie wollte er sich dort ernähren? Doch seine künftige Krankenkost schien Kafka gar nicht zu kümmern, stattdessen beschäftigte er sich stundenlang mit seinem Koffer, dessen Inhalt möglichst wenig darüber verraten sollte, was er eigentlich vorhatte. Keine Wintersachen zum Beispiel, es war ja nur ein Ausflug. Bargeld für länger als ein, zwei Wochen war ohnehin nicht im Haus. Nun, so würden die Eltern es eben schicken. Nur weg jetzt.

    Es ist die Nacht vor dem großen Sprung. Kafka verbringt sie wachend, denn die Gespenster Prags haben sich zu einer letzten großen Attacke vereinigt. Schlafmittel helfen nichts, er muss kämpfen, die Angst ist überwältigend. Nein, er wird nicht fahren. Dora wird es verstehen, dem Vermieter in Steglitz aber wird er absagen, per Telegramm. Was noch fehlt, ist eine glaubwürdige Begründung. Verzweifelt beginnt Kafka, den Text dieses Telegramms zu formulieren, doch er kommt zu keinem Ende damit. Endlich wird es hell, das ›Fräulein‹ kümmert sich ums Frühstück, sein Gepäck steht bereit. Ottlas Ehemann kommt herauf, um sich zu verabschieden, er begreift nicht, wie man in solchen Zeiten nach Berlin fahren kann. Der Vater schimpft noch ein wenig, meint es scheinbar aber nicht böse diesmal, ist von der plötzlichen Entschlusskraft des Sohnes vielleicht sogar beeindruckt. Die Mutter schaut ihren Sohn an und ist traurig. Kafka denkt daran, was er mit Ottla besprochen hat, mit welcher Hingabe sie ihn auf diese große Fahrt vorbereitet hat. Nein, kein Zurückweichen mehr, kein Telegramm. Er wendet sich ab, er besteigt den Fahrstuhl, die Türen schließen sich, und zum ersten Mal sagt er nicht, wann er wiederkehrt.

{618} Epilog
    Kafkas Werk, seine Leistung als Schriftsteller, wurde vor allem in den frühen Jahren seines weltweiten Ruhms immer wieder unter den Titel der ›Prophetie‹ gestellt. Kafka, so hieß es, habe als einer der ersten die anonymisierte Gewalt des 20. Jahrhunderts vorhergesehen und visionär beschrieben, und darin vor allem liege der Grund für seine überwältigende Wirkung. Zu wenig bedachte man dabei, dass Kafka die Verheerungen einer völlig entpersönlichten, technisierten Gewalt, die im August 1914 hereinbrach und die später als ›Urkatastrophe‹ dieses Jahrhunderts gedeutet wurde, als Zeitzeuge miterlebte und dass auch die todbringende Allianz von Gewalt und Verwaltung schon zu seinen Lebzeiten ihre Opfer fand. Kein Weltkrieg ohne Schreibmaschinen, Aktenordner, Karteikarten und Stempel, das wusste er besser als alle seine Schriftstellerfreunde. Welches Inferno nur eineinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod über sein soziales, ja sogar über sein persönlichstes Umfeld verhängt werden würde, dieses sich vorzustellen stand allerdings nicht in seiner Macht, stand in niemandes Macht.
    Alle drei Schwestern Kafkas starben in Gaskammern, Elli und Valli in Chelmno, Ottla in Auschwitz. Kafkas Onkel Siegfried Löwy, der Landarzt, entzog sich der drohenden Deportation durch Suizid. Ellis Sohn Felix starb wahrscheinlich in einem französischen Konzentrationslager. Marie Wernerová, die den Kafkas jahrzehntelang als Haushälterin gedient hatte, wurde ebenfalls deportiert und kam nicht mehr zurück.
    Von den vier Frauen, mit denen Kafka die intensivsten Beziehungen einging, starben zwei in Konzentrationslagern: Julie Wohryzek wurde {619} in Auschwitz getötet, Milena Jesenská starb als politischer Häftling in Ravensbrück. Auch Grete Bloch wurde in Auschwitz ermordet. Kafkas Freund Jizchak Löwy starb im Lager Treblinka, Otto Brod, der einzige Bruder Max Brods, in Auschwitz. Ernst Weiß beging in Paris Selbstmord, da es nach dem Einmarsch der Deutschen kein Entrinnen mehr für ihn gab. Kafkas Schulfreund Ewald Felix Přibram starb auf einem Schiff, das von Deutschen bombardiert wurde.
    Diese Liste ist unvollständig. Wäre es möglich, Kafkas weiteren Bekanntenkreis mit einzubeziehen – Freunde aus der Studienzeit, Bekannte aus zionistischen Kreisen, Kollegen aus der

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