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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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täuschte, dann waren mehr als 350 Briefe in den Wind geschrieben, dann war ihm die Frau, die einmal den innersten Bezirk menschlicher Nähe betreten sollte, in Wahrheit nicht näher als die eigene Familie, in deren allmählich sich lockerndem Gefüge er noch immer als unbeweglicher Beobachter verharrte. Dass die Eltern nichts, gar nichts begriffen – er hatte es zumindest der Mutter ausdrücklich bestätigt, es war so offensichtlich und unwiderlegbar, dass er diese Kränkung aussprechen musste , und hier trotz allem noch auf Verständnis zu hoffen schien ihm derart abwegig, dass er die Eltern in seiner sozialen Bilanz gar nicht erst aufführte. Und doch gab es auch ihnen gegenüber »unleugbare innere Beziehung«, trotz des entsetzlichsten Unverständnisses. War es also – und hier drängte sich ein Gedanke auf, dem Kafka nur noch mit Mühe auswich – war es wirklich eine »Sonderstellung«, die Felice Bauer inne hatte?

    Es zählt zu den eigentümlichen, unglücklichen, für Kafkas gesamte Existenz aber charakteristischen Zufällen, dass die beiden Katastrophen, die psychisch wie materiell jede verbleibende Hoffnung auf einen Neubeginn durchkreuzten, beinahe gleichzeitig über ihn hereinbrachen: das ›öffentliche‹ Tribunal im Askanischen Hof und – kaum drei Wochen später – der Beginn des Ersten Weltkriegs. »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule«, {25} vermerkte Kafka, als er von der zweiten Katastrophe erfuhr; und die unfreiwillige Komik dieser Tagebuchnotiz – um deretwillen sie ein wenig zu oft zitiert wird – scheint tatsächlich zu belegen, dass Kafka mit dem Berliner Debakel noch viel zu beschäftigt war, um die umfassendere Katastrophe überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Daraus ist vielfach der Schluss gezogen worden, dass Kafkas Konstitution weit mächtiger war als alles, was von außen auf ihn einstürzte, dass seine Entwicklung ausschließlich einer innerpsychischen Gesetzmäßigkeit folgte und dass demzufolge weder sein Leben noch sein Werk eine wesentlich andere Richtung genommen hätten, wäre ihm das Leid jenes Krieges erspart geblieben.
    Ein äußerst verführerisches und gewiss auch tröstliches Bild: die Seele des Genies als Fels inmitten einer chaotischen und rohen Welt. Leider auch ein Traum, den die Kafka-Deuter mit den Kafka-Lesern nur allzu gerne teilten. Denn für Kafkas Werk und damit für die Verwaltung seines Ruhms sind diejenigen Fakultäten zuständig, die sich auf die Logik geistiger Formationen spezialisiert haben: die Geisteswissenschaften, deren Geringschätzung des Biographischen notorisch ist. Selbst den methodisch noch so gewitzten Geisteswissenschaftler wird es insgeheim befriedigen, zu erfahren, dass Leben und Werk eines klassischen europäischen Autors eine ›geistige Einheit‹ bilden, die autonomen Gesetzen unterliegt – und ›geistige Autonomie‹ lautet das höchste Adelsprädikat, das hier zu vergeben ist. Liefert nun jener Autor von eigener Hand Indizien dafür, dass die Welt der ›harten‹ Fakten ihn nicht interessierte oder dass sie zumindest keinen wesentlichen Einfluss auf ihn gewinnen konnte, dann wird die Versuchung übermächtig, ihm dies ungeprüft zu glauben und das Soziale, das Politische, das Ökonomische allenfalls als anregendes Material wahrzunehmen, als Kulissen auf der Bühne eines singulären Bewusstseins – erst recht dann, wenn diese Kulissen in Flammen aufgehen, während der Autor scheinbar ungerührt vor seinen Manuskriptblättern verharrt.
    Indessen, das gelebte Leben folgt einer anderen Logik. Es erzwingt Entscheidungen, die nicht nur den psychischen Bedürfnissen, sondern der gesamten geistigen Organisation eines Menschen zuwiderlaufen können, und Kafkas Situation im Juli 1914 bietet dafür wohl eines der spektakulärsten Beispiele der Literaturgeschichte. Er hatte alle verfügbare Willenskraft aufgewandt, um nicht in Depression zu {26} verfallen, und es war ihm sogar geglückt, aus der Trennung von Felice Bauer produktive und ›autonome‹ Konsequenzen zu ziehen. Denn er war jetzt entschlossen – und noch niemals in seinem Leben war er so entschlossen –, das halb eingestürzte Gebäude nicht mehr zu reparieren, sondern gänzlich abzureißen und neu zu errichten: Kündigung bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, Verlassen der elterlichen Wohnung, Übersiedelung nach Berlin, Schreiben als Beruf. Alles, was an literarischem Glück und erotischem Unglück über ihn hereingebrochen

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