Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
Prager Freundeskreises immer seltener zu zeigen. Er hatte die ersehnte Speise aus der Ferne erblickt; nun, da sie ihm verweigert wurde, schmeckte ihm auch die alltägliche Nahrung nicht mehr. Darin steckte Trotz, aber auch das Gefühl, vollends deplatziert zu sein in einer Situation, die beinahe jeden auf das rohe Eigeninteresse zurückwarf. Und es war ebenso begreiflich wie unvermeidlich, dass im Lärm eines Weltkriegs niemand mehr die Geduld aufbrachte, sich die Klagen eines abgewiesenen Liebenden oder eines nichtschreibenden Schriftstellers anzuhören.
    Max Brod und Felix Weltsch waren zum militärischen Einsatz untauglich; so konnten sie damit rechnen, dass ihnen das Schlimmste erspart blieb. Dasselbe galt für den blinden Schriftsteller Oskar Baum, der den Krieg bislang nur als patriotische Geräuschkulisse und in Gestalt bedrohlich zunehmender finanzieller Nöte kannte. Alle aber hatten Verwandte oder Freunde, die ›einrücken‹ mussten, und die plötzliche, überwältigende Nähe einer tödlichen Gefahr machte Denken und Fühlen eng. »Die Angelegenheit mit Franz ist natürlich dadurch in den Hintergrund getreten«, schrieb selbst Kafkas Mutter [10]   , die sich noch wenige Tage zuvor über die abgesagte Hochzeit und über die Auswanderungspläne ihres unglücklichen Sohnes die Haare gerauft hatte – und die jetzt unversehens ihre Töchter Elli und Valli trösten musste, deren Ehemänner irgendwo im Osten ihre Haut zu Markte trugen.
    Auch gegenüber Ottla, der jüngsten Schwester, der Vertrauten, musste Kafka plötzlich zurückstecken. Denn ein Rivale war aufgetaucht: Ottla hatte einen Freund, wohl seit längerem schon, und obwohl sich von der Eröffnung dieses Geheimnisses keine Spur in Kafkas Notizen findet, ist es nicht schwer, sich dessen höchst ambivalente Bedeutung vor Augen zu stellen. Ottla war die erste und einzige der Schwestern, die – selbstverständlich ohne Wissen der Eltern – aus eigenem Willen eine erotische Beziehung aufgenommen hatte. Und sie hatte einen Mann gewählt, der weder Deutscher noch Jude, noch wohlhabend war: einen tschechischen Goj , einen Bankangestellten, dessen einziges Kapital sein beruflicher Ehrgeiz war. Kein Zweifel, dass dieser dreifache Beweis von Ottlas entschlossener Selbständigkeit auch Kafkas Stolz weckte: Er selbst hatte ja keine Gelegenheit versäumt, ihren anfangs widerspenstigen, dann immer {29} bewussteren Willen zur Unabhängigkeit zu fördern, und nun war sie es, die den Beweis erbrachte, dass eine freie Entscheidung, vielleicht sogar ein wirkliches Entrinnen möglich war, Entrinnen aus dem »heimatlichen Rudel«. [11]   Es war gewiss auch Respekt, ja Ehrfurcht vor dieser Leistung, die Kafka dazu veranlasste, sogleich ein freundliches Einvernehmen zu suchen mit Ottlas künftigem Ehemann.
    Aber es muss auch Eifersucht im Spiel gewesen sein. Welche Überwindung es Kafka kostete, die exklusive Vertrautheit mit Ottla in eine sozial offenere und den Bedürfnissen der Schwester angemessenere Gemeinschaft zu überführen, lassen die anrührenden Tagträume des Gregor Samsa erahnen, des mediokren Helden der VERWANDLUNG: Je weiter der zum Tier Degradierte aus seinem sozialen Dasein hinausgedrängt und auf seine kreatürliche Existenz zurückgeworfen wird, in desto lieblicheren Farben erscheint ihm die Schwester. Was Gregor von ihr ersehnt, ist nicht eigentlich Verständnis – ebenso wenig, wie es einen Ertrinkenden nach Verständnis, geschweige denn nach Gott verlangt. Was er will, ist Lebensrettung durch Symbiose. Doch die Schwester verweigert sich und läuft zum Feind über – eine Drohung, die auch Kafka stets gegenwärtig war und die zur Niederschrift der VERWANDLUNG sogar den unmittelbaren Anlass gab. [12]   Diese Drohung aber musste an Virulenz gewinnen, je größer Ottlas Aktionsradius wurde und je großzügiger ihre soziale Einfühlung jenseits des Rudels:
» … ihre Gedanken sind nicht im Geschäft, sondern ausschliesslich in der Blindenanstalt, wo sie seit paar Wochen insbesondere seit den letzten 14 Tagen einige gute Freunde und einen allerbesten hat. Ein junger Korbflechter, dessen eines Auge geschlossen und dessen anderes Auge riesenhaft aufgequollen ist. Das ist ihr bester Freund, er ist zart, verständig und treu. Sie besucht ihn an Sonn- und Feiertagen und liest ihm vor, möglichst lustige Sachen. Ein allerdings etwas gefährliches und schmerzliches Vergnügen. Was man sonst mit Blicken ausdrückt, zeigen die Blinden mit den

Weitere Kostenlose Bücher