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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Fingerspitzen. Sie befühlen das Kleid, fassen den Ärmel an, streicheln die Hände und dieses grosse starke, von mir leider, wenn auch ohne Schuld, vom richtigen Weg ein wenig abgelenkte Mädchen nennt das ihr höchstes Glück. Weiss, wie sie sagt, erst dann, warum sie glücklich aufwacht, wenn sie sich an die Blinden erinnert.« [13]  
    Das war im Sommer 1914: Der Ton ist der des besorgten, von sittlichen Ängsten keineswegs emanzipierten Bruders, und die Kränkung {30} ist nicht zu überhören. Nun aber, nach dem unvermuteten Auftritt eines ernsthaften Bewerbers, verstand Kafka plötzlich, dass nicht mehr er es war, der den »richtigen Weg« dieses Mädchens definierte. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, ohne ihn um Rat zu fragen. Daran hatte sie richtig getan, sie war volljährig, gewiss, und es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis die Eltern mit der altbekannten Heiratsvermittlerin anrückten. Und doch … als Kafka im Frühjahr 1915 ein eigenes Zimmer mietete: Warum dauerte es Wochen , ehe die Schwester ihn dort endlich besuchte, wenige Minuten entfernt von der Galanteriewarenhandlung der Eltern? Das würgte ihn, und es musste heraus: »Dem hast Du nur entgegenzusetzen«, beschied er schroff, »dass ich mich um Deine Sachen wenig kümmere (das hat aber einen besonderen Grund) und dass Du den ganzen Tag im Geschäft bist. Ich gebe zu dass das einen gewissen Ausgleich bewirkt.« [14]   Der juridische Tonfall war ein untrügliches Zeichen, dass dieser Stachel besonders tief saß, und tatsächlich stellte Kafka die geliebte Schwester für den Augenblick wieder zwischen all die anderen, die ihn verlassen hatten und die jetzt ihren eigenen Sorgen nachhingen. Nicht fernliegend aber der Gedanke, dass jener »besondere Grund« ein Tscheche namens Josef David war, genannt ›Pepa‹, dessen Name natürlich nicht genannt werden durfte in einer Familie, in der alle alles mitlasen.
    Es dauerte Monate, ehe Kafka tatsächlich erfasste , was er bisher nur wusste: dass es in Wahrheit nicht Symbiose, nicht Exklusivität war, die Rettung versprach, sondern Verständnis, und zwar »Verständnis für mich im Ganzen«. Und er setzte wiederum Ottla an die Spitze der Hierarchie. Denn er begann jetzt zu verstehen, dass sie als menschliche Zuwendung zurückzugeben vermochte, was sie an flüsternder, regressiver Vertraulichkeit ihm entziehen musste, und mehr noch: dass gerade die Erfahrungen, die sie nun jenseits der alten Bindungen, jenseits des vertrauten Clans machte, das einzige Substrat war, das jene Bindungen auf Dauer lebendig erhielt. Hätte denn Kafka das erotische Unglück, das er in Weimar, in Riva und schließlich auch in Berlin erfuhr, der ahnungslosen Schwester irgend begreiflich machen können? Ob er es versucht hat, wissen wir nicht; dass er damit mehr als Mitleid hätte erlangen können, scheint ausgeschlossen. Nun aber, im Frühjahr 1915, hatte auch die junge Ottla einen Begriff von Sehnsucht, Schmerz und Trennung. Denn ihr Geliebter trug Uniform, und er hatte einen jener außerfahrplanmäßigen Züge mit {31} unbekanntem Ziel besteigen müssen, hatte sich in einen der Waggons zwischen lachende, schwatzende, Zoten reißende und verzweifelt rauchende Soldaten gedrängt, die durchaus schon wussten, wie jene aussahen, die in denselben Waggons zurückkehrten . Dies alles hatte Ottla gesehen. Und auch sie kehrte verwandelt zurück.
    Es ist nur schwer auszumachen, inwieweit Ottla die neue und anspruchsvolle Rolle, die der Bruder ihr zuschrieb, auch objektiv auszufüllen vermochte. Die Überlieferung ist spärlich, und die gemeinsamen Ausflüge aufs Land, von denen wir wissen, die Bücher, die sie gemeinsam lasen, das wechselseitig sich steigernde Interesse am Zionismus und am Schicksal der ostjüdischen Flüchtlinge, die in Prag gestrandet waren – all das lässt die neu erwachsende Vertrautheit allenfalls erahnen. Bemerkenswert ist immerhin, dass sich in den Briefen Ottlas an Josef David kein ironisches oder ungehaltenes Wort gegen den schwierigen Bruder findet: Jener »böse«, gleichsam ethnologisch distanzierte Blick, den Kafka mit Vorliebe gegen die eigene Familie richtete, war Ottla völlig fremd, und das Reservoir an Geduld, das sie in den Jahren der Reife, als Frau offenbarte, war kaum zu erschöpfen. Es ist fraglich – wenngleich natürlich nicht fundiert zu entscheiden –, ob Kafka die Einsamkeit der ersten Kriegsjahre seelisch wie körperlich überlebt hätte ohne diesen letzten Halt. Es ist

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