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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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war, lief auf diese Entscheidung hinaus, erzwang sie geradezu. Nun endlich war der Plan gefasst, schriftlich ausgearbeitet und den Eltern in Gestalt eines langen Briefes eröffnet – und dann der Weltkrieg.
    Man muss sich klarmachen – und Kafka benötigte nur wenige Tage, um es sich selbst klarzumachen –, dass Entlobung und Krieg, privates und öffentliches Unglück nicht nur zeitlich zusammentrafen, sondern dass sie auch in dieselbe Kerbe, dieselbe Wunde schlugen. Denn beides waren Katastrophen, die kostbare menschliche Verbindungen kappten und ihn in einem Augenblick der Hoffnung auf sich selbst zurückwarfen: Katastrophen der Einsamkeit. Das verzweifelte Verlangen nach der Nähe eines geliebten und verstehenden Menschen, das Verlangen nach Intimität, nach Berührung, das Kafka kurz darauf in das Bild des isolierten Angeklagten brennt, der – von seinem Prozess gequält – in unbeherrschbarer Gier, »wie ein durstiges Tier«, das Gesicht einer Gleichgültigen küsst –, dieses Verlangen sah sich nun einem leeren Echoraum gegenüber. »Vollendete Einsamkeit«, notierte er. »Keine ersehnte Ehefrau öffnet die Tür.« Und er fügte ein »furchtbares Wort« hinzu, ein Wort vielleicht, das Felice Bauer ihm im Askanischen Hof entgegengeschleudert hatte: »Wie Du es wolltest, so hast Du es.« [9]  
    Das war ungerecht, und Kafka war sich dessen völlig sicher, dass er eine solche Leere niemals gewollt hatte. Doch auf eine Revision jenes Urteils durfte er nicht hoffen, und der Weg zur Berufungsinstanz war auf unabsehbare Zeit versperrt. Denn der Große Krieg bedeutete das Auftrumpfen einer anonymen Verfügungsgewalt, die Kafka bislang nur als Drohung kannte und die ihn nun binnen weniger Stunden ereilte wie alle anderen. Er hatte sich in Prag eingesperrt gefühlt, seit Jahren schon – nun war er es tatsächlich. Er war daran verzweifelt, in Briefen das Eigentliche, das Wesentliche, sich selbst nicht mitteilen zu {27} können – und das war nun vollends unmöglich, denn sämtliche Briefe ins Ausland, auch ins Deutsche Reich, wurden von Zensoren geöffnet und gelesen. Wie oft hatte er, wenn das Wochenende nahte, mit dem Gedanken gespielt, sich ohne Plan, ohne Ankündigung in den nächsten Zug nach Berlin zu werfen, wie oft hatte er die Fahrt unter Skrupeln verschoben – nun waren die Fahrpläne storniert und die Grenzen für ›wehrfähige‹ Männer geschlossen. Endlich das Telefon: Kafka hatte es gehasst, diese verstümmelte Präsenz, die überdies im Minutentakt zugeteilt wurde; niemals war Zeit, etwas Ungeschicktes zurückzunehmen oder falsch Aufgefasstes zu erklären, zu einer peinlichen Vorsicht zwang das Telefon – nun aber, da es ihm als letztes Medium sinnlicher Nähe verblieben war, gelangte das österreichisch-ungarische Kriegsministerium zu der Auffassung, es sei zu riskant, die eigenen Untertanen über Landesgrenzen hinweg telefonieren zu lassen. Und so wurde auch diese Verbindung gekappt.
    Der Krieg trennte Gesicht von Gesicht, Stimme von Stimme, Haut von Haut. Das war schlimm, wenngleich zu einer Zeit, da Mobilität noch längst nicht zu den Grundrechten zählte, man früh daran gewöhnt wurde, stoisch zu warten und lange Trennungen zu verschmerzen. Doch auch jenseits dieser Sphäre einer kreatürlichen Nähe schnitt der Krieg durch das Gewebe sämtlicher sozialer Beziehungen und zerstörte in wenigen Tagen, was Kafka über Monate und Jahre angebahnt hatte, mühsam sich vortastend über die Grenzen seines Prager Reviers. Sein Verleger Kurt Wolff zog als Offizier an die belgische Front, er konnte sich um seine Autoren nicht mehr kümmern und überließ die Geschäfte (für kurze Zeit, wie er glaubte) einem gutwilligen und tatkräftigen, doch literarisch nicht sonderlich sensiblen Verlagsbuchhändler – einem Nichtleser. Auch Robert Musil, der bereit gewesen war, Kafka den Weg nach Berlin zu bahnen, musste nun selbst die Koffer packen: Drei Wochen nach Kriegsbeginn rückte er als Leutnant in Linz ein, und der Kontakt zu Kafka brach vorläufig ab. Nicht anders erging es Ernst Weiß – der einzige Freund, der einzige literarisch ernst zu nehmende Berater, den Kafka außerhalb der inzestuösen Prager Szene hatte gewinnen können. Auch Weiß musste die Reise von Berlin nach Linz antreten: Er war Arzt und darum unentbehrlich zur laufenden Instandhaltung der Großen Maschinerie.
    Es waren nicht zuletzt diese enttäuschten Hoffnungen, die Kafka {28} dazu veranlassten, sich nun auch innerhalb seines

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