Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Glotze guckte. Was aber zu keiner Veränderung des Zustands führte. Im Gegenteil: Ich fing an, schon nachmittags DVD s anzusehen. Zusammengerollt lag ich im Jogginganzug auf meinem Klippan-Sofa unter einer grünen Decke, auf dem Tisch vor mir drei Tafeln Kinder-Schokolade. Oft schaute ich mir eine Staffel Emergency Room an. Danach war ich aber nicht aufgemuntert, sondern nur deprimierter â denn in der Notaufnahme, um die es in dieser amerikanischen Fernsehserie ging, war so viel Elend. Das erreichte mich noch. Schmerz, Trauer, Leid â das konnte ich noch fühlen. Doch das machte es letztlich nur schlimmer. Am Anfang hatte ich sogar ein klitzekleines bisschen Spaà dabei, mir eine ganze Staffelbox meiner Lieblingsseriereinzuziehen. Es erinnerte an einen entspannten Sonntagnachmittag, den man auf dem Sofa herumlümmelnd verbringt. Doch schnell war auch das öde. Danach streifte ich traurig durch die Wohnung: Ich stand planlos vor meinem Bücherregal und las die Buchtitel, dann ging ich in mein Schlafzimmer, stellte mich ans Fenster und blickte in den Hof. Auf dem Regal, dem Fensterbrett, überall lag eine dicke Staubschicht. Sollte ich nicht sauber machen? Oder mich verabreden? In meiner Traurigkeit rief ich Birgit an und klagte ihr mein Leid:
»Ich hab schon wieder so wenig Energie. Mir tut alles weh. Immer bin ich traurig.«
»Es wird vorbeigehen, Heide, ganz bestimmt«, sagte sie.
»Aber es fühlt sich nicht so an«, erwiderte ich, den Tränen nah.
»Ich weiÃ. Aber du musst durchhalten!«
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, legte ich mich erneut aufs Sofa. Für mehr fehlte mir die Kraft.
Lesen mochte ich nicht mehr. Aber irgendwie musste ich die Zeit totschlagen. Und zu viel Freizeit kann eine Katastrophe sein. Ãber diesen Satz würde meine Freundin Maren nur lachen. Maren ist vierzig, sie hat schöne grünbraune Augen, eine zierliche Nase und einen groÃen Mund mit strahlend weiÃen Zähnen. Ihre blonden Haare trägt sie meistens zum Pferdeschwanz gebunden. Sie ist klein und schlank und arbeitet als Anwältin. Wir kennen uns von der Uni, ich hatte Strafrecht als zweites Hauptfach. Maren war meine Tutorin. Heute arbeitet sie Vollzeit und hat zwei Kinder. Ihr Leben ist von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends straff durchorganisiert. Sie sagt oft: »Ich muss noch so viel erledigen: einkaufen, aufräumen, bügeln, die Waschmaschine anschmeiÃen, den Geschirrspüler ausräumen, ein Geschenk einpacken, kochen, eine Akte durcharbeiten, einen Vortrag schreiben â ich weià gar nicht, wo mir der Kopf steht.«
Dann fragt sie mich: »Und was machst du am Wochenende?«
»Gar nichts.«
Wie die meisten meiner Freunde hat Maren chronisch zu wenig Zeit. Früher hatte ich auch so ein pralles, vollgestopftes Leben wie sie. Bei vielen wurde es durch die Kinder noch kompakter. Bei mir wurde es wegen der Depressionen so leer, dass ich mich mit Erschrecken fragte, ob es sich so wohl anfühlt, wenn man im Altersheim ist. Die Langeweile wird einzig durch die Mahlzeiten unterbrochen. Denn nicht nur hatte ich keine Lust mehr zum Lesen, ich konnte es auch kaum noch. Doch es fiel mir extrem schwer, das zu akzeptieren. An einem Sonntag versuchte ich mich an Plädoyer eines Irren von August Strindberg. Ich setzte mich an den Küchentisch, machte das Radio aus und zwang mich zur Konzentration. Es musste doch möglich sein, ein anspruchsvolles Werk zu lesen. Doch nach den ersten zwanzig Seiten gab ich auf. Das Buch des schwedischen Autors, eine Autobiografie über seine erste Ehe, war geistreich und originell geschrieben, aber zu schwer für mich. Kaum hatte ich die Sätze gelesen, wusste ich nicht mehr, worum es ging. Es blieb mir nichts anderes übrig, als einzusehen: »richtige« Romane, die Sonntagszeitung, Fachzeitschriften â das war vorbei. Birgit wollte mir einmal Adler und Engel leihen, gleichzeitig eine Liebesgeschichte und ein Politthriller von Juli Zeh. Es war mir peinlich, ihr sagen zu müssen: »Tut mir leid, aber das ist im Moment einfach zu anspruchsvoll für mich.«
Mein Nicht-lesen-Können empfand ich als persönliches Versagen, es war mir nicht klar, dass es eine Nebenwirkung der Depression war. Ich konnte mich höchstens noch auf Jugendbücher konzentrieren. In diesen Monaten las ich alle Bände von Dolly , Hanni und Nanni, Bille und Zottel sowie Britta . Ronja
Weitere Kostenlose Bücher