Kalte Fluten
standen.
Sie näherte sich ihm vorsichtig von hinten und legte einen Arm um seine Schulter. Sie flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr. Sie versuchte einfach, ihm Mut zu machen.
Wolfgang wischte sich die Tränen aus den Augen. Er war ein großer, bulliger Mann, und doch wirkte er hilflos. »Danke, dass du das sagst. Wir beide wissen, dass es Wunschdenken ist. Die Rückfallquote bei Heroinabhängigen liegt bei weit über neunzig Prozent. Warum sollte ausgerechnet Lydia die Ausnahme sein? Sag mir einen Grund.«
»Weil sie dich hat«, sagte Wiebke. Sie musste schlucken. Da war ein riesiger Kloß in ihrem Hals.
Wolfgang nickte. Sie sah ihm an, dass er eigentlich nicht zustimmen, sondern einfach nur nicht widersprechen wollte.
»Was macht denn dein Versetzungsantrag nach München?«, fragte sie. Er hatte ihr natürlich erzählt, dass er versuchte, wieder in den Süden zurückversetzt zu werden. Unter Tränen hatte er gebeichtet, dass er Jahre gebraucht hatte, um zu begreifen, dass er und seine Entscheidung der Grund für Lydias Absturz waren. Er hoffte, dass Lydia vielleicht bereit wäre, neu anzufangen, und wollte ihr dafür eine Umgebung bieten, die sie zwar vielleicht längst nicht mehr kannte, die ihr aber in guter Erinnerung war. Doch die Chancen für diesen Neuanfang standen alles andere als gut.
»Du weißt doch, wie die sind. Der Antrag wird so lange nicht bearbeitet, bis ich ihn durch meinen Antrag auf Pensionierung ersetzen kann. Und selbst wenn ihn einer ernsthaft in die Hand nehmen würde, eine Versetzung könnte nur aus dienstlichen Gründen erfolgen. Die habe ich aber nicht vorbringen können. Meine private Situation interessiert hier doch keine alte Sau nicht.«
Er benutzte diese typisch bayerische Form der Verneinung gern, weil die doppelte Negation der Aussage besondere Bedeutung verlieh.
»Ich fahr sie jetzt holen«, sagte er dann, nahm seine Jacke und verließ das Büro. Wiebke sah ihm mit feuchten Augen nach. Ob dieser Mann jemals wieder glücklich werden könnte?
Sie griff zu einer Akte und las darin, legte sie aber bald wieder weg. Es handelte sich um einen selbst für Mordermittler widerlichen Fall. Eltern hatten ihr Kind schwer misshandelt, es schließlich sogar verhungern lassen. Doch es gab keine brauchbaren Zeugen, und die Eltern belasteten sich gegenseitig. Wolfgang und sie hatten sich bei den Vernehmungen alle Mühe gegeben, einen der beiden zu einem Geständnis zu bewegen. Aus vielen Fällen wussten sie: Ein Geständnis erleichtert auch die Seele des Täters. Doch die beiden hatten keine Seele. Wolfgang hatte dieser Fall mehr belastet, als Wiebke das bei ihm je gesehen und vermutet hätte. Er litt unter der Vorstellung, dass ein gewiefter Anwalt die beiden mit einer lächerlichen Freiheitsstrafe, wahrscheinlich sogar zur Bewährung, aus der Verantwortung pauken könnte. Doch genau darauf lief es hinaus. Einen Haftbefehl hatte der Richter angesichts der Ermittlungsergebnisse gar nicht erst ausstellen wollen. Das war ein ganz schlechtes Omen im Hinblick auf das Urteil.
Sie überlegte, was sie jetzt tun könnte, als ihr Blick auf die Vase fiel, die auf dem Sideboard stand. Ihre Gedanken hellten sich auf. Sie hatte heute zweiundzwanzig rote Rosen bekommen. Schon wieder. Wie immer kamen sie von diesem unerhört gut aussehenden, äußerst attraktiven Psychiater Dr. Thomas Schulte. Sie hatten sich kurz vor Weihnachten bei einem Mordfall kennengelernt. Der Hauptverdächtige präsentierte eine Entlastungszeugin, deren Glaubwürdigkeit ihr zweifelhaft erschien. Schulte hatte ein Gutachten erstellt. Deshalb trafen sie sich mehrfach dienstlich und waren auch privat ins Plaudern gekommen. Schulte war so einfühlsam, so gebildet, so zuvorkommend. Wiebke hatte sich Hals über Kopf verliebt. Und seit drei Wochen mit Beginn des neuen Jahres schickte er ihr nun auch noch alle zwei, spätestens alle drei Tage Blumen. Immer nur mit einer Visitenkarte und dem immergleichen Text: »Für eine beeindruckend schöne Frau.«
Siehst du, Wiebke, ein Arzt.
Ja, Mama. Es wird schon.
Aber was war das? In den Blumen steckte ein kleines Kuvert. Das hatte sie doch glatt übersehen. Wiebke stand auf und trat neben das Sideboard. Zitternd nahm sie den Umschlag, öffnete ihn und hielt einen mit Füllfederhalter geschriebenen Brief in der Hand. Mit hochrotem Kopf wie ein Teenager, der den Zettel mit der Frage aller Fragen »Willst du mit mir gehen?« auf dem Pausenhof las, immer in der Angst, die anderen könnten
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