Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
1
Der erdige Geruch, die Kühle des Kellers, ließ sie frösteln. Nur die Lampe im Eingangsbereich, wo auch der Probiertisch stand, brannte. Der Rest des Kellers lag im Dunkeln. Thomas schien nicht da zu sein. Sie war extra der Mutter aus der Küche entwischt, weil es beim Kellermeister in den Gewölben viel interessanter war. Bestimmt war er nur kurz fort. Immerhin wusste sie mit ihren neun Jahren, dass der Gärungsprozess ständig überwacht werden musste. Leonie schmeckte den typischen moderigen Gärungsgeruch. Die Gärgase verströmten sich im gesamten Keller. Im hinteren Bereich blubberte es in den Fässern. Das war die schönste Zeit während der Ernte. Man roch förmlich, ob es weiße oder rote Trauben waren. Leonie beschloss, auf den Kellermeister zu warten. Mit ihren kindlichen Gefühlen zu ihm fragte sie sich oft, warum sie nicht so einen Mann wie Thomas zum Vater hatte. Er lachte so warm und herzlich, und seine braunen Augen schauten sie dabei verschmitzt an, als könnte ihn niemals etwas betrüben. Sie setzte sich auf einen der Stühle um den altertümlichen Tisch und ließ die Beine baumeln. Ihre Augen glitten verhalten über die Weinflecken auf der abgenutzten Tischplatte und die teilweise musterhaft kreisrunden Ringe, welche die vielen abgestellten Flaschen hinterlassen hatten. Ihr Blick wanderte hinüber zu den Weinfässern. Das Blubbern aus dem Halbdunkel schien ihr verstärkt. Ihre Augen rollten über die verzerrten Schatten, die der entfernte Lichtkegel an den Wänden tanzen ließ. In ihrer überbordenden Einbildungskraft sprangen ihr düstere Masken von den Wänden entgegen, Fratzen, die sie auszulachen schienen. Bildete sie sich alles nur ein? Schon häufig hatte sie erlebt, wenn ihre Gedanken konzentriert anfingen, mit der Materie zu kommunizieren, setzten sich die Bilder leibhaftig vor ihrem geistigen Auge in Szene.
Leonie stand auf, ging um den Tisch herum und nahm auf der anderen Seite platz. Von hier aus blickte sie auf die Wand mit den zahlreichen eingerahmten Auszeichnungen des Rosskampweingutes. Bald begann sie, sich zu langweilen, bis ihr der Schemel auffiel. Wie achtlos beiseitegeschoben stand er ein wenig abseits vom Tisch. Mutter hatte ihr beigebracht, einen Stuhl nach dem Aufstehen ordentlich an den Tisch zurückzustellen. Sollte sie? Ihre Augen hefteten sich auf das alte Stück. Sie stellte sich vor, wie er sukzessive ... Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. Sie wollte es doch nicht mehr tun, hatte es der Mutter versprochen. Aber das Möbelstück schob sich bereits zentimeterweise unter ihrem Blick neben die anderen an den Tisch. Für sie war es ein Spiel. Es löste in ihr eine Mischung aus prickelnder Furcht und süßes Geheimnis aus. Ihre Gedanken glitten zu jenem Abend, an dem sie dieses Spiel entdeckt hatte. Vater hatte wieder einmal versucht, sie in den Schlaf zu küssen. Nicht so, wie ein Vater sein kleines Mädchen küsst und gute Nacht sagt. Nein, wie ein fordernder Mann, wobei seine klobige Hand auf ihrer zart heranwachsenden Brust lag, als wäre es selbstverständlich. In dem Moment hatte nebenan das Telefon geklingelt, was sie vor weiteren Zugriffen geschützt hatte. Vater war aus dem Zimmer gegangen. Doch bevor er die Tür hinter sich zuziehen konnte, schloss sie sich mit einem lauten Knall und hatte offensichtlich noch seinen Rücken getroffen. Denn er öffnete sie gleich darauf wieder, sah sich mit gerunzelter Stirn im Raum um, als suche er nach einem Luftzug, der schuld gewesen sein könnte. Das Fenster aber war geschlossen. Kopfschüttelnd hatte er das Zimmer verlassen. Unversehens hatte sie erkannt, dass sie vom Bett aus die Tür zugeschlagen haben musste. Was war passiert? Sie hatte die geöffnete Tür angestarrt. Sich mit allen Fasern ihres Herzens gewünscht, Vater würde sich zum Teufel scheren. Ja, ja, das sollte er, und sie hatte zur Untermalung ihres Wunsches mit einer kräftigen Kopfbewegung zur Tür hin gedeutet. Hinterher war ihr ein wenig schlecht gewesen. Ein leichtes Pochen im Kopf, als hätte sie sich körperlich überanstrengt, so, wie sie es nach zu eifrigem Sport in der Schule verspürte. Seit dem Abend mit Vater probierte sie ihr Spiel, wann immer sie sich allein glaubte, wohl wissend, dass das, was sie trieb, nicht alltäglich war. Aber sie war ja eh nicht wie andere Kinder. Jedenfalls behauptete Mama das.
Leonie blinzelte. Im Moment wusste sie nicht, wo sie war. Im Weinkeller oder in den Weinbergen? Ihr Körper schwebte noch in
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