Kalter Weihrauch - Roman
aber sie blickte sich nicht um, als ob ein nicht beschreibbares Grauen in ihrem Rücken lauern würde. Krinzinger beschloss, sich nicht mit langem Nachfragen aufzuhalten. »Bleiben Sie ganz ruhig da stehen«, befahl er der Frau, dann wälzte er sich über die Böschung und versank sofort bis zu den Knien im Schnee. Schnee rieselte von den Zweigen, die er streifte, und sickerte in seinen aufgestellten Jackenkragen. Das lärmende Treiben vom Weihnachtsmarkt wurde schlagartig gedämpft durch die dichten Nadelbäume, das Licht versickerte in seinem Rücken. Stille und ein gespenstisches Gefühl von Einsamkeit umgaben ihn, er hörte sich selber keuchen. Zum Glück war es eine helle Nacht, übermorgen würde Vollmond sein. Krinzinger hielt inne und lauschte, sein Herz pumperte. Wohin sollte er sich wenden, das Wäldchen war ja nun wirklich kein unüberschaubares Terrain, und dennoch gab es ein halbes Dutzend mögliche Verästelungen und Fußstapfen, die vor ihm lagen. Er entschied, den eingesunkenen Spuren im Schnee zu folgen, die ihm von schräg rechts entgegenkamen. Ob die verwirrte und geschockte Frau aus dieser Richtung gestolpert gekommen war? Hoffentlich! Er spürte, wie plötzlich Groll und Ärger ihn packten. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen, wieso hatte er sich von einem hysterischen Weibsbild so ins Bockshorn jagen lassen? Kreuzteufel, er konnte nur inständig hoffen, dass niemand die Szene beobachtet hatte, sonst würde er morgen wieder einmal das Gespött im Wirtshaus sein. Wie immer, wenn er sich … die Fußstapfen wurden weiter, als ob jemand in großen Schritten durch den Schnee gerannt wäre oder es wenigstens versucht hätte. Sie führten ihn scharf um die tiefhängenden Zweige einer uralten Fichte – und dann sah er es. Sie. Er sah sie. Liegen im Schnee. Der Mond schien.
Krinzinger ging in die Knie. Eigentlich beugte er nur ein Knie und stützte sich darauf. Eine Frau lag auf dem Rücken vor ihm, eingesunken und wie verschmolzen mit dem Schnee. Eine reglose junge Frau in einem weißen Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Eine Braut! Eine Braut, dachte er. Eine Braut, Herr im Himmel! Lass es nicht die Vroni sein! Die hatte doch am vergangenen Wochenende geheiratet! Aber die Vroni und der Patrick waren auf Hochzeitsreise in der Dominikanischen Republik, es konnte also nicht die Vroni sein. Danke, lieber Gott, ihre Mutter hätte das nicht überlebt! Krinzinger stierte vor sich hin, sein Gehirn war wie aus Watte. Vielleicht war ja alles bloß ein Albtraum. Gleich würde er zu Hause in seinem Bett aufwachen, fröstelnd, und die Steppdecke würde wieder einmal auf den Boden gerutscht sein. Er wartete, mindestens fünf Herzschläge lang, aber nichts geschah, nur der Schnee wurde zu Wasser in seinem Hemdkragen. Der Mond schien. Die Frau lag da.
Er rappelte sich wieder hoch. Was war er nur für ein schlechter Polizist! Vielleicht war die junge Frau ja gar nicht tot, sondern war in den Wald gerannt und ohnmächtig geworden. Aus Liebeskummer. Frauen neigten bekanntlich zu den seltsamsten Handlungen. Und er ging in die Knie, statt sie zu retten. Aber er fühlte, dass es sinnlos war, auch wenn er noch nicht einmal ihren Puls kontrolliert hatte. Er machte zwei vorsichtige Schritte, dann stand er neben ihrem Kopf. Er beugte sich hinab und versuchte, seine Finger an ihren Hals zu legen, der von einem weißen Kragen eingeschnürt war. Kalt, eisig kalt, nicht einmal ein Flattern. Ihre Augenlider waren halb geschlossen, ihr Gesicht war wächsern bleich unter der gebräunten Haut, die nass war vom Schnee. Sie trug eine Art Kopftuch, das verrutscht war. Und dann wurde ihm plötzlich klar, dass es keine Braut war, die vor ihm lag. Sondern … Krinzinger machte einen so jähen Schritt zurück, dass er beinahe gestrauchelt wäre, im letzten Moment klammerte er sich an einem schwankenden Zweig fest. Es war noch viel schlimmer. Es war einfach unbegreiflich. Noch Jahre später würde ihm der Schweiß ausbrechen, wenn er an jenen Augenblick im Schnee zurückdachte. Er holte tief Luft und fühlte sich zum ersten Mal zu alt für seinen Job. Damit wollte er einfach nichts mehr zu tun haben. Aus, basta! Er wollte nur weg.
Er hastete den Weg zurück, den er gekommen war. Die Stimmen wurden lauter, er erklomm die Böschung auf allen vieren. Menschen standen um die Touristin, die ihm den Rücken zuwandte und in hohem schrillem Tonfall berichtete, offenbar hatte sie den ersten Schock bereits überwunden. Ein Mann
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