Kalter Weihrauch - Roman
Auch damals waren sie zum See beordert worden und dort …
»Komm, Leo, wir haben keine Zeit«, unterbrach Pestallozzi sein Erinnern. »Ich erzähl dir im Auto Genaueres. Viel weiß ich aber auch noch nicht.«
Leo schnappte sich seinen Wintermantel, anthrazitgrauer Tweed, eng geschnitten, kniekurz, ein wirklich großzügiges Geschenk von der Mama zu seinem letzten Geburtstag, und sie hasteten zum Aufzug. In der Tiefgarage ließen sie sich in den Skoda fallen, Leo gab bereits Gas, während Pestallozzi noch am Sicherheitsgurt nestelte. Eigentlich hätten sie schon längst Anrecht auf ein neues Modell gehabt, aber es musste ja gespart werden, damit die maroden Banken im Land mit Milliarden gesponsert werden konnten! Doch diese Ungerechtigkeit konnte zum Glück mit schnittigem Fahren wieder ausgeglichen werden. Leo stieg aufs Gaspedal, der Chef warf ihm einen warnenden Blick zu. Hinaus auf die Alpenstraße, wo die Autokolonnen durch den Matsch zockelten. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, alles bewegte sich in Richtung Altstadt und Domplatz, über den Straßen prangten die Lichterketten der Weihnachtsbeleuchtung. Aber sie mussten hinaus aus dem Trubel, über die Salzachbrücke und hinauf in die Hügel. Leo konzentrierte sich auf den Verkehr. Endlich lag die Stadt hinter ihnen wie eine funkelnde Christbaumkugel, dann wurde es immer dunkler längs der Straße, nur der Mond schimmerte zwischen Wolkenfetzen. Der Chef sah zum Fenster hinaus.
»Der Krinzinger hat eine tote Frau gefunden«, sagte Pestallozzi endlich, gerade als sie durch Hof fuhren. »In einem kleinen Wald hinter dem Weihnachtsmarkt. Das heißt, eigentlich hat eine Touristin die Frau gefunden.«
»Scheiße«, sagte Leo spontan.
Eine tote Frau. Auf dem Weihnachtsmarkt. Frauenmorde waren das, was sie alle am meisten verabscheuten. Nein, Mord an Kindern war das Allerschlimmste. Aber Mord an Frauen kam gleich danach. Und jetzt hatten sie also eine tote Frau, noch dazu am Weihnachtsmarkt. Halleluja, das würde ein beschaulicher Advent werden!
»Ist sie ermordet worden?«
»Das kann der Krinzinger noch nicht sagen. Sie liegt im Schnee, aber ohne äußere Anzeichen von Gewalt.«
»Na hoffentlich keine Gräfin!«
Das sollte natürlich ein Scherz sein, eine Anspielung darauf, wie sie im letzten Sommer den alten Baron Gleinegg … aber der Scherz kam nicht gut an, das spürte er selber.
»Sorry«, sagte Leo. »Ich hab’s nicht so gemeint.«
»Schon gut«, sagte Pestallozzi. »Nein, es ist keine Gräfin. Es ist noch viel …«, er suchte nach Worten, das kam bei ihm nur selten vor, »… noch viel ungewöhnlicher. Es ist eine Nonne, sagt der Krinzinger.«
»Eine Nonne?« Leo starrte den Chef an.
»Schau nach vorn«, sagte der.
Schnee wirbelte im Licht der Scheinwerferkegel, die Landschaft und selbst die Straße leuchteten weiß wie frischgewaschene Wäsche, nur die Fahrrinnen waren dunkelbraun. Der Fuschlsee war hinter Gestöber verborgen, dann kamen der Wald und endlich die lange Kurve hinunter nach St. Gilgen. Der See lag vor ihnen, eine Ahnung in der Dunkelheit, an seinen Ufern gesprenkelt von Lichtern, die sich ab und an zu Orten zusammenballten. Leo musste plötzlich an die Modelleisenbahn denken, die ein alter Nachbar vor vielen Jahren auf dem Dachboden aufgebaut gehabt hatte. Der Nachbar war schon lang tot. Die Jahreszeiten waren von ihm stets aufs Neue liebevoll dekoriert worden, und ganz genauso hatte die Winterlandschaft ausgesehen, durch die dann eine altmodische Lok gerattert war. Miniaturhäuschen und Watteschnee, winzige Tannen und Lichterketten mit Lämpchen so klein wie Hagelzucker. Aber natürlich keine Frau, die …
Sie fuhren nun bereits am Ufer entlang, dicht neben dem Wasser, das sich schwarz-silbrig kräuselte. Rechts ragten Felsen hinauf zum Zwölferhorn, die mit Drahtgittern gegen Steinschlag gesichert waren. Wie schnell das Leben doch vorbei sein konnte. Ein Felsbrocken, der auf das Autodach polterte, und schon verriss man das Lenkrad und landete im eiskalten Wasser. Im kalten Wasser wie der Edi im letzten Sommer. Pfhhhh, Leo versuchte, sich zu entspannen. Was der Chef da so knapp von sich gegeben hatte, das ließ auf eine lange Nacht schließen, die vor ihnen lag. Andererseits, vielleicht war die Nonne ja auch bloß gestolpert. Spazieren gegangen, ausgerutscht und gestolpert. Und der übereifrige Krinzinger hatte natürlich gleich ein riesen Tamtam inszeniert, der hatte ja sonst nichts zu tun in seinem Dorf hinter
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