Kanadische Traeume
1. KAPITEL
“Da ist er! Der mysteriöse Gast!”
“Wirklich”, antwortete Charity Marlowe unbeeindruckt. Sie saß in einem zerschlissenen Polstersessel, den Kopf zurückgelegt, das Haar in ein Handtuch gepackt und die Augen fest zugedrückt. “Zu früh, die Enthüllung des neuen Ich findet erst in ein paar Minuten statt. Kannst du ihn fragen, ob er seinen Auftritt etwas später machen könnte?”
Charity erhielt keine Antwort, und obwohl der Geruch im Zimmer ihr sagte, daß man von dem Zeug auf ihrem Haar vermutlich erblinden konnte, wagte sie es, ein Auge zu öffnen.
Sie konnte die ganze Hütte mit einem Blick, einem sehr kurzen Blick, erfassen. Ihre Cousine war verschwunden.
“Mandy”, rief sie, “komm sofort zurück. Du weißt, daß in der Anleitung steht, man darf es nicht zu lange…”
“Bin gleich bei dir, Char”, kam Mandys Stimme durch die offene Tür.
Zehn Minuten vergingen. Charity bemerkte, wie heiß es in der Hütte war. Wenn es Ende Mai schon so erdrückend war, würde es im Juli und August unerträglich sein.
“Ich bin verrückt”, murmelte sie und lächelte. Es machte Spaß, einmal im Leben ein kleines bißchen verrückt zu sein.
“Mandy!” rief sie wieder.
Keine Antwort. Charity seufzte, zog das Handtuch fester um den Kopf, stand auf und ging zur Tür. Freudig sah sie hinaus.
Die Hütte stand hoch oben an einem steilen Hang.
“Nur von Angestellten kann man verlangen, daß sie so eine Treppe hochklettern”, hatte Mandy gestöhnt, als sie gestern Charitys Koffer heraufgeschleppt hatten.
Man konnte von dieser Höhe über das Dach des
Hauptgebäudes von Anpetuwi Lodge hinaussehen. Von hier, wo Charity jetzt stand, sah sie das friedlich anmutende grüne Wasser der Bucht und dahinter das dunklere leuchtende Blau des Okanagan-Sees. Die Frische der Luft nahm ihr fast den Atem. Es roch nach Zedern und Tannen und nach sonnengetränkter Erde.
Charity verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte.
Doch nicht so verrückt! Dann sah sie, womit ihre Cousine beschäftigt war. “Mandy!” rief sie.
“Ich habe schon x-mal Haare gefärbt”, sagte Mandy, ohne das Fernglas von den Augen zu nehmen, “nur keine Sorge.”
“Um mein Haar sorge ich mich nicht.” Das stimmte nur zum Teil. “Es gehört sich nicht, den Hotelgästen nachzuspionieren.”
“Ach was, Frau Doktor.” Mandy riß sich lange genug von dem Feldstecher los, um die grünen Augen zu verdrehen und die sommersprossige Nase zu rümpfen. “Was ist ungehörig daran, einen gutaussehenden Mann zu bewundern?”
“Durchs Fernglas”, ermahnte Charity sie und lachte. Man konnte nicht anders in der Gegenwart ihrer übermütigen, entzückenden rothaarigen Cousine.
“Rein technisch gesehen, Doktor”, meinte Mandy und richtete den Fernstecher wieder auf das Hauptgebäude.
“Mandy, vielleicht solltest du mich lieber nicht Doktor nennen, auch nicht im Spaß. Es könnte…”
“Oh, richtig! Dein Inkognito lüften.”
“Du hast doch behauptet, daß …”
“Das kannst du mir glauben, die Leute wollen ihr Bier nicht von einer Ärztin serviert bekommen. Mein Fehler. Kommt nicht noch mal vor. Übrigens”, Mandy riß sich noch einmal von ihrem Fernglas los und musterte ihre Cousine, “in ein paar Minuten wirst du in eine Femme fatale verwandelt. Keiner wird je erraten, daß du das gelehrte, unscheinbare Wesen…”
“Ich bin im Bild.” Charity schnitt ein Gesicht. “Um beim Thema zu bleiben, sollten wir nicht die Schmiere aus meinem Haar waschen, ehe es grün wird?”
“Glaub mir, ich habe schon öfters blonde Strähnen gemacht.
Man kann das Mittel ewig drauflassen, ohne daß es schadet.”
Mandys Ton gab zu verstehen, daß ihrer Ansicht nach Grün gegenüber dem fahlen Braun von Charitys Haar ein Fortschritt wäre.
Mandy schaute mit der Intensität eines Spions, der gerade den Feind entdeckt hat, durch den Feldstecher. Charity gab sich geschlagen und ließ den Blick in die gleiche Richtung schweifen.
Das nichtsahnende Objekt ihres Interesses war aus seinem Zimmer im Hauptgebäude auf den Balkon gekommen, wo es sich bestimmt äußerst privat wähnte. Er las Zeitung. Nicht gerade aufregend, und doch, Charity verstand, warum ihre Cousine diesen Mann so faszinierend fand und Mühe hatte wegzusehen. Er hatte etwas Fesselndes an sich, eine männliche Potenz, die die physische Kluft, die zwischen ihnen lag, mit alarmierender Leichtigkeit überbrückte.
Kraft. Seine Kraft war offensichtlich, sogar von dieser
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