Kann es wirklich Liebe sein
eintraf. Das Problem war nur, dass ihre Gedanken so durcheinander waren, dass sie befürchtete, sie niemals rechtzeitig sortieren zu können.
Roy Mitchell hatte viele bewundernswerte Züge. Er war ehrgeizig und wohlhabend und würde einer Ehefrau einen guten Lebensstandard bieten. Sein dunkles Haar und die braunen Augen konnten sich sehen lassen und seine Manieren waren makellos. Doch trotz allem weckte er keine großen Gefühle in ihr. Und soweit sie es beurteilen konnte, weckte sie auch keine in ihm.
Was soll ich nur machen, Herr? Soll ich Roy heiraten und darauf hoffen, dass meine Gefühle für ihn noch entstehen, oder hast du jemand anderen für mich im Sinn? Bitte zeig mir deinen Willen!
Ein forsches Klopfen erklang an der Tür, doch bevor Meredith antworten konnte, sauste schon ihre Tante ins Zimmer und zog prüfend ihre Augenbrauen hoch. „Ich bin froh, dass du genug gesunden Menschenverstand gezeigt und dich für dieses besondere Ereignis hübsch gemacht hast.“
Meredith biss sich auf die Zunge. Nachdem sie nun schon seit einigen Jahren unter dem Dach dieser missbilligenden Frau lebte, hatte sie gelernt, so wenig wie möglich zu sprechen, wenn ihre Tante wieder einmal auf sie losging.
„Komm her, Kind, und dreh dich, damit ich dich sehen kann.“
Während sie das Kind zu ignorieren versuchte, tat Meredith, wie ihr geheißen worden war. Ihre Tante schnalzte mit der Zunge und seufzte so tief wie eine Märtyrerin, der man ein tonnenschweres Kreuz zu tragen gegeben hatte.
„Kannst du nichts machen, um dieses grauenvolle Hinken zu verstecken? Wir dürfen nicht riskieren, dass Mr Mitchell es sich anders überlegt, bevor eure Verlobung offiziell ist. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass dir nichts dazwischenkommt. Cassandra hat strikte Anweisung, sich nicht blicken zu lassen. Wir wollen doch nicht, dass Mr Mitchell Vergleiche anstellen kann, die für dich von Nachteil sind, nicht wahr?“
Tante Noreen senkte ihren Blick, als spürte sie Merediths Zweifel. „Du tust am besten nichts, was diese Verlobung gefährdet“, sagte sie und fuchtelte mit ihrem Finger unter Merediths Nase herum. „Everett und ich haben zu viel in diese Sache investiert, als dass du herumtrödeln dürftest. Der Mann erwartet heute eine Antwort von dir. Und die sollte besser ein Ja sein.“
Als Meredith Gott um Führung gebeten hatte, hatte sie nicht erwartet, dass er sie ihr mit einem von Noreens Ausbrüchen vor die Füße werfen würde. War das wirklich die Antwort, nach der sie gesucht hatte? Sprach Gott durch Tante Noreen zu ihr oder verfolgte ihre Tante nur ihre eigenen Pläne? Es machte Meredith nichts aus, gegen ihre Tante zu rebellieren, aber gegen Gott zu rebellieren war eine vollkommen andere Sache.
Da sie dem wedelnden Finger entkommen musste, um ihre Gedanken zu sortieren, ging Meredith zu ihrem Schrank hinüber, um sich ein Umhängetuch zu suchen. Auf dem Weg dahin humpelte sie umso stärker. Als Tante Noreen aufstöhnte, musste Meredith lächeln. Sie wusste, dass es kleinlich war, aber sie würde sich von dieser Frau nicht tyrannisieren lassen, ohne sich zu wehren.
In Wirklichkeit spürte sie den Schmerz in ihrer Hüfte kaum. Nur an den Tagen, an denen sie sich überanstrengte, machte er sich deutlicher bemerkbar. Vor Jahren hatte der Arzt festgestellt, dass der Knochen im Unterschenkel durch die Verletzung in der Stahlfalle nicht in der Lage war, genauso zu wachsen wie der andere, weshalb ihr rechtes Bein ein klein wenig kürzer war als das linke. Mit angepassten Schuhen, deren Sohlen und Absätze auf der rechten Seite eineinhalb Zentimeter höher waren, konnte sie mittlerweile ohne Probleme zurechtkommen. Leider neigte Tante Noreen dazu, Berge zu sehen, wo andere Menschen allerhöchstens Maulwurfshügel bemerkten, vor allem, wenn es um Merediths Unzulänglichkeiten ging.
Meredith legte sich einen elfenbeinfarbenen Schal um und starrte auf den Stoff, während sie vorsichtig das Gespräch mit ihrer Tante aufnahm. „Mein Vater hat mich immer dazu ermutigt, meinen Ehemann mit großer Sorgfalt auszuwählen, da die Verbindung für den Rest des Lebens gilt. Ich werde mich nach diesem Rat richten. Roy Mitchell hat viele gute Eigenschaften, aber ich brauche mehr Zeit, um ihn kennenzulernen, bevor ich eine definitive Entscheidung treffen kann.“ Sie blickte auf und sah, dass Tante Noreens Gesicht einen finsteren Ausdruck angenommen hatte. „Das heutige Essen wird mir sicher dabei helfen, mir klarer zu werden“,
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