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Kann ich gleich zurueckrufen

Kann ich gleich zurueckrufen

Titel: Kann ich gleich zurueckrufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Streidl
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eingeläutet. Dass sie Germanistik studiert und ihr Studium mit einem Bachelor beendet hat, steht auch in ihrem Lebenslauf. Was der Vorgesetzte nicht ausgesprochen, aber durchaus gemeint hat, so die junge Kollegin, ist: Und Sie wollen sich in einer Marketingabteilung bewerben. Als Bücherwurm. Also hat sie sich beim nächsten Punkt beeilt. Als der Vorgesetzte sagte, in ihrem Lebenslauf würden keine Kinder erwähnt, hat sie genickt und gesagt, sie sei Single. Ohne Kinder. Und so solle es bleiben.
    Auch wenn unser Vorgesetzter selbst zwei Töchter hat, sind die Kinder seiner Angestellten für ihn doch hauptsächlich unbequem. Bei mir beispielsweise: Jeden Tag kann es sein, dass ich ausfalle. Besonders Kindergartenkinder werden ständig krank – eine Erkältung hier, ein Magen-Darm-Infekt da. Ich kann keine Überstunden machen. Ich muss jeden Tag pünktlich ausstempeln, kann meine Arbeitszeit kaum um ein paar Minuten überziehen. Ich stehe für außerplanmäßige Termine nicht zur Verfügung. Und wenn mein Sohn dann zur Schule geht, kommen auch noch zwölf Wochen Schulferien auf meine Handicap-Liste.
    All das weiß der Vorgesetzte. Auch wenn er es mir niemals vorwerfen würde. Ich gehe jeden Tag mit einem schlechten Gewissen ins Büro, weil ich nicht genügend Dankbarkeit zeige für ein Unternehmen, das mir doch so viel zugesteht. Ich drehe mich ein letztes Mal auf die andere Seite. Um 0:20 Uhr schließe ich die Augen und denke noch: Hoffentlich hustet Tika nicht mehr.
    * Nachzulesen in einer Studie zur Erwerbstätigenquote, veröffentlicht von Statista: 72 Prozent der Mütter im Alter von fünfundzwanzig bis neunundvierzig Jahren mit Kindern unter fünfundzwanzig Jahren haben in Deutschland im Jahr 2009 gearbeitet.
    ** Wegen Diskriminierung hat sich eine Mitarbeiterin der Verwertungsgesellschaft Gema eine Entschädigung in Höhe von 20.000 Euro erstritten. Sie fühlte sich bei einer Beförderung wegen ihres Geschlechts übergangen und klagte aufgrund des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Den Beweis für die Benachteiligung erbrachte sie mithilfe der Statistik.

DIENSTAG
    In sechzehn Minuten müssen wir los. Mein Sohn sitzt im Schlafanzug am Küchentisch. In der linken Hand hält er seinen Plüschhasen, in der rechten ein Honigbrot. Er isst nicht. Er sitzt einfach nur da. Der Honig läuft langsam über seine Finger. Ich sage jetzt zum dritten Mal, er soll endlich das Brot essen, endlich seinen Kakao trinken, endlich fertig werden mit dem Frühstück, damit ich ihn endlich anziehen kann. »Wir müssen bald los«, sage ich, »und Zsófia wird auch gleich klingeln.« »Tika«, sage ich, betone jede Silbe besonders deutlich und lächle ihn aufmunternd an. Doch er sitzt einfach nur da und macht nichts.
    Dienstags erwache ich immer mit einem Gefühl von Anspannung. Eigentlich kommt dieses Gefühl schon am Montagabend: Ich habe Angst zu verschlafen – trotz Wecker und kindlichem Frühwarnsystem. Die Vorstellung, von der Putzfrau geweckt zu werden, ist mir wahnsinnig unangenehm. Ihr Arbeitstag beginnt morgens um fünf. Sie muss die Böden einer Zeitarbeitsfirma vor Bürobeginn reinigen. Da will ich ihr über drei Stunden später kein Guten Morgen entgegengähnen. Und ich will auch kein verschlafenes Kind mit Honigfingern am Tisch sitzen haben. Ein Kind im Schlafanzug ist für mich nur dann in Ordnung, wenn es wirklich krank ist. Ist der Kleine aber tatsächlich krank, sage ich der Putzfrau ab – sie möchte sich sicher nicht anstecken. Und kranke Kinder brauchen Ruhe, keine emsigen Putzgeräusche.
    Ich ziehe den Kleinen auf meinen Schoß, lege das Brot auf den Teller und den Hasen daneben. Ich wische ihm Hände und Mund mit einem feuchten Waschlappen sauber, ziehe ihm den Schlafanzug aus und Unterhemd, Unterhose, Socken, Hose, Hemd an. Er wehrt sich nicht, reagiert eigentlich gar nicht richtig. Ob er etwas ausbrütet? In der Nacht hat er nicht gehustet, und seine Stirn fühlt sich nicht heiß an. 8:02 Uhr. Mein Mann kommt in die Küche, um sich zu verabschieden. Auch er befühlt die Stirn des Kleinen, drückt einen Kuss drauf und streichelt meine Wange. Dann ist er weg.
    Um 8:14 Uhr klingelt es. Ich öffne der Putzfrau die Tür, mein Sohn steht fertig angezogen neben mir. Wir gehen Hand in Hand zum Kindergarten. Der Weg erscheint mir heute doppelt so lang wie sonst. Der Kleine geht langsam und reagiert nicht auf mein Antreiben. Ich will ihn nicht ziehen, weil ich mir dann vorkomme, als wäre er ein störrisches

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